In der weltweiten Börsenlandschaft herrscht gespannte Ruhe. Mitte März haben die London Stock Exchange (LSE) und die Deutsche Börse Details ihres gut 25 Milliarden Euro schweren Fusionsplans vorgestellt. Seitdem warten alle auf die Reaktion des US-Konkurrenten ICE: Wird das Unternehmen aus Atlanta eine Gegenofferte für die LSE auf den Tisch legen und so einen europäischen Champion verhindern? Oder halten die Amerikaner die Füße still und überlassen den Deutschen das Feld?

Der Ausgang des Pokers könnte am Ende maßgeblich vom Timing abhängen. Der Termin, den die Entscheidungsträger in den Firmen dabei genauso wie Branchenexperten im Blick haben, ist der 23. Juni. An diesem Donnerstag stimmen die Briten über einen möglichen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ab. Käme es zum "Brexit", würde der Wert der LSE nach Einschätzung von Analysten sinken. Experten gehen davon aus, dass die EU dann unter anderem verbieten würde, Euro-Derivate in London abzuwickeln. Dann müsste die LSE-Tochter LCH.Clearnet viele Geschäfte aufgeben oder diese in die EU verlagern.

Deutsche Börse und LSE sind der Ansicht, dass ihre Fusion unabhängig vom Ausgang des Referendums Sinn macht. Bei Bedarf könnten bei einem "Brexit" Geschäfte innerhalb des Konzerns von London nach Frankfurt verschoben werden. Ein Austritt Großbritanniens aus der EU würde die geplante Fusion nicht gefährden, sagte der Aufsichtsratschef der Deutschen Börse, Joachim Faber, kürzlich in einem Interview. "Mehr noch: Ein 'Brexit' könnte sogar für Frankfurt eine Chance sein."

WANN MÜSSEN DIE AMERIKANER FARBE BEKENNEN?



Für einen amerikanischen Bieter wäre ein "Brexit" nach Einschätzung von Insidern dagegen ein großes Problem. Eine Kombination aus ICE und LSE hätte nur relativ kleine Töchter in Kontinentaleuropa - etwa die Mailänder Börse oder den französischen Teil von LCH.Clearnet. Eine Verlagerung von großen Teilen des bisher in London angesiedelten Geschäfts auf diese vergleichsweise kleinen Einheiten wäre aus Sicht von Experten sehr kompliziert.

Genau das wollen LSE-Chef Xavier Rolet und Carsten Kengeter, der Boss der Deutschen Börse, Insidern zufolge ausnutzen. Der Konkurrent ICE muss sich laut britischem Übernahmerecht nämlich spätestens sieben Tage vor einer außerordentlichen Hauptversammlung der LSE entscheiden, ob er eine Gegenofferte vorlegen will oder nicht. Das Treffen, bei dem die LSE-Aktionäre über die Fusion abstimmen, sei vor oder ganz kurz nach dem Referendum geplant, sagten mehrere mit dem Vorgang vertraute Personen. Die ICE müsste dann vor dem Referendum Farbe bekennen. Und wegen der Ungewissheit über dessen Ausgang wäre es für die Amerikaner schwerer, einen hohen Preis für die LSE zu bieten.

Noch steht allerdings nicht fest, ob der Plan aufgeht. Es sei denkbar, dass die LSE die Hauptversammlung auf Wunsch ihrer Aktionäre erst dann ansetze, wenn die deutschen Finanzaufseher bei der BaFin den Übernahmeprospekt für die Deutsche-Börse-Aktionäre genehmigt haben, sagten mit dem Prozess vertraute Personen. Ob die BaFin rechtzeitig grünes Licht gebe, sei schwer vorherzusehen. Bisher wurden die Unterlagen Finanzkreisen zufolge noch nicht bei der Behörde in Bonn eingereicht. LSE, Deutsche Börse, ICE und BaFin wollten sich nicht äußern.

WAS KANN DIE ICE AUS DEM HUT ZAUBERN?



Sollte die ICE ein Angebot für die LSE vorlegen, werde es "ordentlich" über der Offerte der Deutschen Börse liegen, sagte eine mit den Plänen vertraute Person. Bestehen würde es vermutlich aus ICE-Aktien und einem Baranteil. Die Deutsche Börse könnte ihrerseits mit einer Sonderdividende reagieren, um den Deal mit der LSE für die Aktionäre attraktiver zu machen, sagten mehrere Insider.

Dass sich die Amerikaner bisher nicht aus der Deckung gewagt haben, liegt Experten zufolge auch an ihrem Schuldenberg. Dieser belief sich nach der gut fünf Milliarden Dollar schweren Übernahme des Finanzdaten-Spezialisten Interactive Data (IDC) Ende vergangenen Jahres auf mehr als sieben Milliarden Dollar. "Ohne den IDC-Deal hätten sie sich schneller bewegt", sagt Richard Daniels vom New Yorker Analysehaus TABB Group. Banker sind jedoch der Ansicht, dass eine Gegenofferte am Ende nicht an der Finanzierung scheitern würde.

Die Synergien, die ICE und LSE erzielen könnten, wären allerdings geringer als bei einer Kombination von Deutscher und Londoner Börse, sagte eine Person aus dem Umfeld der ICE. In Frankfurt lehnt sich deshalb jedoch niemand zurück, schließlich ist ICE-Chef Jeffrey Sprecher für seine aggressives Vorgehen in Übernahmeschlachten bekannt. Er hat die ICE im Jahr 2000 gegründet und sie binnen weniger Jahre durch mehrere spektakuläre Übernahmen zu einem der größten Börsenbetreiber weltweit gemacht. 2013 schluckte er die altehrwürdige New York Stock Exchange und damit auch die in London ansässige Derivate-Börse Liffe. Ein Börsen-Insider ist sich deshalb sicher: "Sprecher ist alles zuzutrauen."

Reuters