Telefonieren in Indien ist erfreulich billig und unerfreulich unbequem. Zwar kostet eine Gesprächsminute auf dem Handy in der Regel weniger als eine Rupie, umgerechnet etwa einen Cent, aber die Qualität des Telefonats ist Glücksache. Wer etwa Vodafone India nutzt, den zweitgrößten Anbieter im Land (siehe Tabelle), wird die Erfahrung machen, dass es nicht ganz einfach ist, eine Leitung etwa zwischen den Metropolen Mumbai und Delhi aufrechtzuerhalten. Glück hat, wer seinen Gesprächspartner verstehen kann; oft brechen Gespräche einfach ab.

Mit solchen Tücken könnte es demnächst vorbei sein, denn der indische Telekommarkt steht vor einer historischen Neuordnung. Treibende Kraft des Wandels ist Reliance Industries (RIL). Dank seiner starken Marktstellung im Öl-, Gas- und Petrochemiegeschäft sowie im Einzelhandel ist RIL eines der größten Unternehmen Asiens und das profitabelste in Indien. Dieses Schwergewicht tritt in den nächsten Monaten mit der neuen Marke Jio in großem Stil in den Mobilfunkmarkt ein, und nichts wird mehr so sein, wie es einmal war.

Zugegeben: Der Mobilfunkumsatz pro Person ist in Indien aufgrund des relativ niedrigen Einkommensniveaus deutlich geringer als in westlichen Ländern. Allerdings hat der Subkontinent dank des rasanten Wachstums von Bevölkerung und Wirtschaftsleistung erhebliches Potenzial. Derzeit zählt Indien rund 1,06 Milliarden Mobilfunkkunden, täglich steigt die Zahl um mehr als 200 000. Ungefähr ein Drittel davon nutzt ein Smartphone, wobei dieser Anteil rapide wächst. Hinzu kommt, dass die indische Bevölkerung mit einem Medianalter von Mitte 20 extrem jung ist - aus Sicht der Anbieter eine großartige Gelegenheit: Ihre Kunden werden wahrscheinlich noch jahrzehntelang telefonieren, Daten nutzen und Umsatz generieren, und sie verfügen im Schnitt zudem von Jahr zu Jahr über deutlich mehr Geld.



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Hightech für den Subkontinent



Reliance Industries läutet jetzt eine neue technologische Ära südlich des Himalaja ein und "könnte den Markt durchschütteln", meint die Anlagegesellschaft IDFC Securities. Zum einen verfügt RIL, anders als die bisherigen Anbieter, über Lizenzen in allen 22 Mobilfunkregionen ("Circles") des Landes - also ein Netzwerk, das fast überall funktioniert. Zum anderen setzt der Konzern von Anfang an auf 4G-Technologie, die bei RIL nach eigenen Angaben eine 80-mal schnellere Datenübertragung ermöglicht als bei vielen Wettbewerbern. Das Streaming von Musik, Filmen und Fernsehen könnte alltäglich werden.

Zahlreiche Apps bilden ein neues "Ökosystem", das an den App-Store des amerikanischen Technikgiganten Apple erinnert. Auch das passende Hightech-Handy hat RIL im Angebot. Das "LYF" genannte Gerät kam im ersten Quartal dieses Jahres bei Neukäufen bereits auf einen Markt-anteil von sieben Prozent, deutlich mehr als Apples iPhone, das für viele Inder zu teuer ist. Die Folgen für die Anbieter, denen RIL bislang egal sein konnte, sind dramatisch. Es dürfte zu einem Kampf um die Kunden kommen - Preisschlacht und Verdrängungswettbewerb inklusive. Dies trifft vor allem die bisherigen Marktführer, von denen einige an den Weltbörsen zu den bekannten Bluechips zählen.

An erster Stelle ist Branchenprimus Bharti Telecom zu nennen. Die Bharti-Aktie ist für Anleger in Deutschland zwar nicht handelbar, dafür aber jene des Großaktionärs Singapore Telecom, der 32,3 Prozent an Bharti hält und weltweit insgesamt mehr als 550 Millionen Mobilfunkkunden zählt. Gefährdet ist auch die Vodafone-Gruppe, die bislang nur fünf Circles per 4G abdeckt und noch keine überzeugende Strategie präsentiert hat, wie sie Jio künftig im Zaum halten will.

Am düstersten sieht es für Telenor aus. Die Norweger sind seit Langem nicht nur in Skandinavien aktiv, sondern auch in Osteuropa, Russland und in mehreren Wachstumsmärkten in Asien. Während die Geschäfte in Malaysia, Thailand und Myanmar laufen, fährt Telenor in Indien vor die Wand. Der Konzern hat dort den 4G-Zug verpasst und sitzt auf einem Netz, das von Tag zu Tag nutz- und wertloser wird. Die jüngsten Zahlen zu Indien waren verheerend, und das Management um CEO Sigve Brekke hat signalisiert, dass es die Geschäfte dort einstellen und damit einen beträchtlichen Teil seiner 208 Millionen Kunden weltweit (per Anfang 2016) abgeben könnte.

Auch RIL selbst zählt wegen der Milliardeninvestitionen in das neue IT-Ökosystem bislang noch nicht zu den Gewinnern. Der Börsenwert liegt mit umgerechnet 42 Milliarden Euro kaum höher als vor Jahresfrist und impliziert, dass der neue Geschäftszweig fast wertlos sei. Was Unsinn ist. Die US-Bank Morgan Stanley prognostizierte Ende April, dass Jio im Dezember 30 Millionen Kunden zählen könnte, die einen Umsatz von mehr als einer Milliarde Dollar generieren. Ein Jahr darauf sollen es schon 60 Millionen Nutzer sein, und das Telekomgeschäft dürfte RIL auf Jahre - vielleicht gar viele Jahrzehnte - Umsatz und Cashflow bringen. Insofern erscheint die Aktie zurzeit als kaufenswertes Value-Schnäppchen, das Anleger sehr, sehr lange halten können.



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