Es gibt Momente, da kommt selbst ein durch und durch disziplinierter Konzern wie Nestlé nicht darum herum, sich selbst zu feiern. Auf dem Campus der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne wurde das Nestlé Institute of Health Sciences eröffnet. Aus den Lautsprechern drangen sphärische Klänge, eine Lichtorgel schickte weiße und violette Strahlen über die Gäste hinweg. Science- Fiction-Feeling. Genau das Richtige für eine Einrichtung, die das Leben der Menschen verändern soll.

Das war vor drei Jahren. Heute beschäftigt das Nestlé-Institut 150 Wissenschaftler aus 20 Nationen. Es geht um die Bekämpfung der großen Plagen der westlichen Welt: Demenz, Diabetes, Fettleibigkeit und entzündliche Erkrankungen des Darmtrakts. Das Ziel ist die Entwicklung von therapeutischen Nahrungsmitteln: ein Joghurt, der den Ausbruch von Alzheimer verzögert; ein Keks, der die Zuckerkrankheit nicht ausbrechen lässt. Und es geht um eine Weichenstellung für die nächsten Jahrzehnte: Nestlés Umbau vom Nahrungsmittel- zum Gesundheitskonzern.

Noch ist es nicht so weit. Im Moment treiben den Konzern ganz andere Sorgen um. Transfette oder angeblich mit Blei verunreinigte Maggi-Nudeln in Indien etwa (siehe Randspalte) - nicht gerade förderlich für ein Unternehmen, das sich als Anbieter von gesunden Nahrungsmitteln positionieren will. Selbst wenn der Indien- Skandal dem Aktienkurs nicht wirklich schadete - auch die Börsianer reagierten zuletzt verschnupft. Zum zweiten Mal in Folge verfehlte der Konzern 2014 das mittelfristige Minimalziel von fünf Prozent Umsatzwachstum. Klar, dass man nach neuen Wachstumsfeldern Ausschau hält.

Der Markt für therapeutische Nahrungsmittel könnte der richtige sein. Zwar befindet er sich noch im Embryostadium. Dafür verspricht er groß zu werden. Experten rechnen in den kommenden Jahren mit zweistelligen Wachstumsraten. In 20 oder 30 Jahren soll der Markt 150 Milliarden Dollar schwer sein. Genau die Liga von Nestlé.

Wer hier investiert, der braucht einen langen Atem. Doch einen solchen hatte Nestlé schon immer. Das Unternehmen hat eine große Tradition an ambitionierten Vorhaben mit ungewissem Ausgang. Sie gehören zur DNA des Konzerns. Angefangen bei Henri Nestlé, dem Firmengründer und Pionier der industriellen Nahrungsmittelproduktion. Er tüftelte Mitte des 19. Jahrhunderts jahrelang an einem Kindermehl. Dafür hat seine Formel des "packaged food" bis heute Gültigkeit: stabil, sicher, haltbar. 1938 folgte schließlich eine Innovation, die Nestlé weltweit zum Begriff machte: Nescafé.

Auf Seite 2: Ein Mehrgenerationenprojekt





Ein Mehrgenerationenprojekt



Die inzwischen in die Wege geleitete epochale Wende zum Gesundheitskonzern treibt der heutige Verwaltungsratspräsident Peter Brabeck-Letmathe mit großer Entschlossenheit voran. 2001 lässt er als Konzernchef den Slogan "Good Food, Good Life" formulieren. 2006 gelingt ihm der entscheidende Coup: Nestlé übernimmt für 2,5 Milliarden Dollar den Bereich Medical Nutrition vom Pharmakonzern Novartis und wird damit auf einen Schlag zweitgrößter Anbieter für medizinische Ernährung.

Aus der Forschungsküche des Nestlé Institute of Health Sciences gab es allerdings seit der Eröffnung keine großen Neuigkeiten mehr. Der Alzheimerjoghurt lässt auf sich warten. Dafür tastet sich die Einheit Nestlé Health Science kontinuierlich in Richtung therapeutische Nahrungsmittel vor. Im Februar 2011 hat Nestlé die Londoner CM & D Pharma übernommen. Im Juli kam es zu einer strategischen Mehrheitsbeteiligung an der neuseeländischen Vital Foods. Das Unternehmen vertreibt einen Kaugummi auf Basis einer Kiwi-Substanz, die den Phosphatspiegel im Blut von Nierenkranken senkt.

Ein vielversprechendes Investment ist den Schweizern im Januar dieses Jahres mit dem 65 Millionen Dollar teuren Einstieg bei der amerikanischen Seres Therapeutics gelungen. Seres Therapeutics gilt als führend in der Entwicklung von Therapien auf Basis von Mikroorganismen. Die Kalifornier suchen seit ein paar Wochen Probanden, um ein mikrobiotisches Präparat zu testen, das gegen wiederkehrendes Clostridium difficile wirken soll - eine entzündliche Darmerkrankung, die nach Antibiotikabehandlungen auftritt und sich vor allem in den Vereinigten Staaten zunehmend zu einem Problem entwickelt: 700 000 Fälle pro Jahr, davon 14 000 mit tödlichem Ausgang. Eine Krankheit mit Blockbusterpotenzial.

Was von all dem Bestand hat, wird sich zeigen. "Trial and Error" heißt die Devise, Versuch und Irrtum. "Sie wissen womöglich noch nicht, wohin es führt, aber sie wissen sehr wohl, was sie tun", sagt James Amoroso, langjähriger Nestlé-Analyst und heute selbstständiger Unternehmensberater. Er stellt fest, dass Nestlé immer mehr bereit sei, unternehmerisch zu handeln. Nespresso zum Beispiel sei jahrelang unter dem Radar gelaufen, bevor es sich zum weltumspannenden Renner entwickelt habe. Nestlé sei bereit, Fehler zu machen, und könne daraus lernen.

Auf Seite 3: Das Ziel: mehr Profitabilität





Das Ziel: mehr Profitabilität



Wie viel das Geschäft mit der medizinischen Ernährung heute zu Umsatz und Gewinn von Nestlé beiträgt, ist kaum zu beziffern. Der Konzern rapportiert verschiedene Produktkategorien in der Division Nutrition & Health Science, die 2014 mit einem Volumen von 13 Milliarden Franken rund 15 Prozent des Umsatzes ausmachten. Romano Monsch, Nestlé-Analyst bei der Credit Suisse, schätzt, dass davon drei Viertel auf den Bereich Nutrition entfallen, also die Babynahrung. Die medizinischen Ernährungslösungen würden sich demnach zusammen mit den Hautprodukten in den restlichen 25 Prozent verstecken.

Die Profitabilität der Abteilung dürfte nach Schätzungen des Credit-Suisse-Analysten bei etwa 20 Prozent liegen, also knapp fünf Prozentpunkte über derjenigen des Gesamtunternehmens. Auch beim Umsatzwachstum dürfte es bei Nutrition & Health Care weit besser aussehen als für den ganzen Konzern. Monsch geht für den Bereich Nutrition weiterhin von einer Wachstumsrate von etwa acht Prozent aus. Das Ziel ist seiner Meinung nach klar: "Der Konzern versucht dort zu wachsen, wo die Profitabilität besser ist." Und das ist für Anleger mit entsprechend langem Zeithorizont sicher die richtige Strategie.



Auf Seite 4: Nestlé: Alle Daten auf einen Blick: