Nach der Digitalisierung des Privaten rund um Smartphones, Thermomix-Kocher und drahtlose Kopfhörer sind nun die Unternehmen dran. Fieberhaft vernetzen Firmen weltweit ihre Maschinen und Anlagen. So erkennen etwa Sensoren anhand von Daten und Geräuschen, ob eine Turbine gewartet werden muss. Windräder rufen selbstständig nach dem Techniker. Und die Montage auf der neuen Produktionsstraße wird bereits vor dem Start komplett simuliert, damit sich die Arme benachbarter Roboter auch ja nicht in die Quere kommen. Fachleute nennen das Industrie 4.0. Für Deutschland ist die vernetzte Fabrik eine Riesenchance, findet SAP-Finanzvorstand Luka Mucic.

BÖRSE ONLINE sprach im Vorfeld des Digital-Gipfels der Bundesregierung am Montag und Dienstag in Ludwigshafen mit ihm über die nächste Revolution in der Industrie und wie sich der Softwareriese darauf einstellt.

Herr Mucic, die Bundesregierung trommelt ab Montag in Ludwigshafen und Umgebung die führenden Köpfe der IT-Branche zum Digital-Gipfel zusammen. Er soll dem zuletzt eher mäßig relevanten IT-Gipfel neues Leben einhauchen. Wie soll das gehen?



Ich würde nicht sagen, dass der IT-Gipfel mäßig relevant war. Im Gegenteil: Die Bundesregierung zeigt, dass Informationstechnologie und Digitalisierung Zukunftsthemen für Deutschland sind und dass sie nur mit Vertretern der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Politik gemeinsam bewältigt werden können. Das war früher so und es wird immer wichtiger.

Zu den Standardthemen auf den vergangenen Gipfeln gehörte stets das Thema Industrie 4.0, also die Automatisierung und digitale Vernetzung in der Industrie. Siemens-Chef Joe Kaeser sieht darin eine "Schicksalsfrage der deutschen Industrie". Kritiker sehen das ganz anders und halten Industrie 4.0 eher für ein deutsches Hype-Thema, um das sich jenseits der deutschen IT-Community niemand schert?



Wir erleben das anders: In Japan ist Industrie 4.0 ein ganz großes Thema - auch außerhalb der IT-Unternehmen, China ist an Industrie 4.0 ebenfalls sehr stark interessiert, dort sehen wir zudem hervorragende Möglichkeiten für langfristig angelegte strategische Kooperationen. Unternehmen in den USA, in Europa und Asien rüsten sich. Von daher ist Industrie 4.0 alles andere als ein Hype: es ist ein zentrales Zukunftsthema.

Aber die Erfolge in Sachen Vernetzung und Digitalisierung in Deutschland sind im internationalen Vergleich sehr überschaubar. Da geben immer noch die US-Riesen Google, Apple oder Facebook den Takt vor. Was macht Sie so zuversichtlich, dass Deutschland bei Industrie 4.0 nicht erneut vom Silicon Valley abgekocht wird?



Wir haben in der notwendigen Gesamtrezeptur einige sehr wichtige Zutaten, die von anderen Volkswirtschaften kaum kopiert werden können.

Nämlich?



Deutschland hat immer noch eine sehr breite Industrie-Kompetenz und zwar auf der Prozessebene, nicht nur bei der Führung einer verlängerten Werkbank der Design-Abteilung...

...Sie meinen Apple...



...da gibt es Einige. Deutschland ist Weltklasse in der Planung und im Betrieb hoch-komplexer Industrieprozesse, denken Sie nur an die Automobil-Industrie, den Maschinenbau oder die Chemie. Und wir haben mit SAP ein stark vernetztes Unternehmen, das elementare industrie-spezifische Anwendungen liefert und zusätzlich über eine Technologie-Plattform verfügt, die genau für das Andocken und Vernetzen von virtueller und physischer Welt gedacht ist.

Dazu kommt die Rückendeckung aus der Politik. In der Bundesregierung genießen Automatisierung und digitale Vernetzung hohe Priorität. Umgekehrt müssen wir hierzulande sicher bei den Rahmenbedingungen besser werden. Da sind beide Seiten gefordert: Wirtschaft und Politik.

Das heißt?



Wir müssen die vorhandenen Kompetenzen in Deutschland besser vernetzen, kleine und mittelständische Unternehmen digital stärken und gleichzeitig die Start-up-Kultur ausbauen. Die Bundesregierung hat das erkannt und treibt beispielsweise die Gründung von digitalen Hubs voran, bei denen sich etablierte Unternehmen und Start-ups gegenseitig befruchten sollen, übrigens auch in der Metropol-Region Rhein-Neckar, wo dieser Digital-Gipfel stattfindet.

Viele Firmen wünschen sich auch noch andere Verbesserungen, etwa einen rascheren Breitband-Ausbau, europaweit einheitliche Regeln zum Thema Datenschutz, Steuer-Erleichterungen für Forschung und Entwicklung oder einen zentralen Digitalminister. Wo sehen Sie den größten Bedarf?



Ich glaube nicht, dass es einer stärkeren behördlichen Koordination bedarf. Wir plädieren eher für eine Vernetzung gerade des innovativen Mittelstandes. Dazu brauchen wir einheitliche regulatorische Standards auch auf europäischer Ebene und die steuerliche Förderung von Innovationen.

Wie sollte eine steuerliche Neuregelung aus Ihrer Sicht denn konkret aussehen?



Wir würden uns eine steuerliche Forschungsförderung für alle Unternehmen wünschen, unabhängig von ihrer Größe. Dabei sollte ausschließlich die Wertschöpfung in Deutschland steuerlich absetzbar sein und zwar bis zu einer noch zu definierenden Obergrenze

Wo soll der Deckel liegen?



Sinnvoll wäre sicher ein nennenswerter dreistelliger Millionenbetrag pro Unternehmen, weil dann zugleich ein starker Investitionsanreiz gesetzt würde, hier in Deutschland mehr auf Forschung und Entwicklung zu setzen.

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Die schöne neue Welt aus Nullen und Einsen kommt aber nicht überall so gut an. Bei vielen Menschen wächst die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz, dazu kommt die Angst, beruflich abgehängt zu werden und die Furcht, dass die Gehaltsschere noch weiter aufgehen könnte. Können Sie diese Ängste nachvollziehen?



Absolut. Dennoch sollte man sich diesen Ängsten nicht ergeben und die Potenziale der Digitalisierung brachliegen lassen. Denn klar ist auch: Alles was automatisiert werden kann, wird auch irgendwann automatisiert. Selbstverständlich müssen wir uns sehr genau mit der Frage beschäftigen, wohin die Reise dabei geht, welche Qualifikationen Mitarbeiter künftig haben müssen und wie Mitarbeiter diese digitalen Qualifikationen am besten erwerben können. Aber wir sollten die Entwicklung aktiv gestalten, statt darauf zu warten, dass sie über uns hinwegrollt.

Nun haben der Siegeszug der Dampfmaschinen oder die Einführung des Fließbandes vor allem gering qualifizierte Menschen getroffen. Doch mit der nächsten Stufe der Digitalisierung und dem Machine Learning, also selbst lernende Systeme, könnten erstmals in der Industrie-Geschichte auch Akademiker auf dem Abstellgleis landen. Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn nicht einmal mehr Fleiß und eine gute Ausbildung vor dem sozialen Abstieg schützen?



Das Gefährlichste für eine Gesellschaft wäre es, wenn ein großer Anteil der Bevölkerung keine sinnstiftende Tätigkeit mehr hätte. Es gab und gibt immer wieder Experten, die ein solches Horror-Szenario an die Wand malen. Aber: Eingetreten ist es bislang nicht und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es in den nächsten 20, 30 oder 40 Jahren so weit kommt. Trotzdem müssen wir uns vorbereiten und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens benötigen wir steigende Investitionen in Qualifikation, Bildung und Agilität, also die Bereitschaft, zu lebenslangem Lernen. Zweitens brauchen wir klare ethisch-moralische Leitplanken.

Wir entwickeln bei SAP aktuell einen solchen Code of Conduct etwa für Machine Learning. Dabei geht es im Kern um die Frage, wo Automatisierung sinnvoll sein kann und wie wir sicherstellen, dass wir dabei gesellschaftliche Werte und Ziele nicht aufs Spiel setzen. Allerdings verläuft diese Diskussion bislang sehr einseitig. Betont werden dabei vor allem die Risiken. Doch Digitalisierung hat auch viele positive Folgen: Sie schafft überhaupt erst die Voraussetzungen für eine wachsende soziale Teilhabe vieler Menschen, zum Beispiel in der Gesundheitsversorgung, Stichwort Telemedizin, wo der Landarzt gemeinsam mit dem Experten an der Uni-Klinik eine Diagnose stellen kann. Diese Punkte gehen in der öffentlichen Debatte häufig unter.

Aber es gibt ja noch andere Auswirkungen der Automatisierung. Die Einzahlungen in die Steuer- und Sozialkassen könnten sinken, wenn Maschinen Menschen ersetzen. Microsoft-Gründer Bill Gates hat sich angesichts dessen bereits für eine Robotersteuer ausgesprochen. Richtig?



Noch mal: Ich glaube nicht, dass es auf absehbare Zeit dazu kommen wird, dass Menschen massenhaft ohne Beschäftigung sein werden. Und was den Vorschlag einer Robotersteuer anbelangt: Vom Grundsatz ist das sicher richtig. Gegenwärtig setzt die Besteuerung vor allem bei der Vergütung der Mitarbeiter an. Wenn sich die Wertschöpfung aber immer weiter in Richtung Automatisierung verlegt, muss man über Alternativen nachdenken, zum Beispiel, ob man schrittweise alle wertschöpfenden Assets gleich behandelt und in die Besteuerung einbezieht. Das könnte am Ende sogar zu einem in sich schlüssigeren Steuersystem führen.

Aber die IT-Branche hat selbst auch noch ein paar Hausaufgaben zu erledigen. Der größte Hemmschuh auf dem Weg ins digitale Zeitalter ist derzeit das Thema Datensicherheit. Erst vor wenigen Wochen hat der WannaCry-Virus weltweit Hunderttausende von Rechnern lahmgelegt. Fürchten Sie nicht, dass die Digitalisierung von Fabriken so einen empfindlichen Rückschlag erleiden könnte?



Der WannaCry-Virus war ein Weckruf. Wir haben uns in den vergangenen Jahren gerade diesseits des Atlantiks intensiv über Datenschutz Gedanken gemacht, aber die Datensicherheit etwas stiefmütterlich behandelt. Davon abgesehen glaube ich aber nicht, dass WannaCry die Unternehmen von der Digitalisierung abhalten wird. Ähnliche Befürchtungen gab es auch schon früher, etwa im Zusammenhang mit den NSA-Veröffentlichungen von Edward Snowden. Die Kunden haben Cloud-Computing deshalb nicht aufgegeben, aber sie haben bei den Anbietern höhere Sicherheits-Standards eingefordert. Das wird diesmal nicht anders sein.

Viele Unternehmen murren außerdem, dass es keinen einheitlichen Datenstandard für Industrie 4.0 gibt. Heute wird ein Produkt etwa mit Software von Siemens entwickelt, die Kuka-Roboter produzieren und die Motoren von ABB treiben die Fließbänder an. Das finden viele Unternehmen doof. Wann kommt endlich ein branchenweiter Standard?



Es stimmt: Wir brauchen eine Einigung über ein einheitliches Austauschprotokoll und die entsprechenden Sicherheitsstandards bei Industrie 4.0. In Deutschland sind wir hier mit dem Referenz-Architektur-Modell schon weit. Der nächste Schritt muss nun sein, dieses Modell europaweit auszurollen und natürlich auch die Amerikaner ins Boot holen. Es wäre vermessen, zu glauben, dass es ohne die USA gehen würde. Mit der nötigen politischen Unterstützung und Priorisierung halte ich es durchaus für möglich, dass wir in den nächsten zwei, drei Jahren einen einheitlichen Standard hinbekommen.

Auf Seite 3: Wie SAP sich auf die digitale Fabrik einstellt





Kommen wir mal auf Ihr Geschäft: SAP ist bei Unternehmen in Sachen Finanzbuchhaltung, Lagersteuerung oder Logistik stark vertreten. Aber bei Industrie 4.0 machen bislang andere das Rennen. Siemens hat das Geschäft in den vergangenen Jahren stark forciert und liefert von Lösungen zur Produkt-Entwicklung bis zur Anlagensteuerung und Wartung alles aus einer Hand. Wo ist da der Platz für SAP?



Wir haben heute schon eine gute Position auf diesem Gebiet. Dass ein großer Kunde wie Siemens bei seinen Automatisierungslösungen stark auf Digitalisierung setzt, kommt uns durchaus zugute. Denn wir haben in vielen Feldern Basis-Technologien wie Produktionsplanung oder Logistik-Steuerung. Wenn Siemens nun Partner im SAP-Öko-System wird, eröffnet uns das zusätzliche Chancen.

Siemens vertreibt die SAP Echtzeitanalyse HANA. Abgerechnet wird dabei nach Verbrauch. Ist pay-as-you-go auch bei SAP das Bezahlmodell der Zukunft?



Zunächst: Wir haben transaktionsbasierte Bezahlmodelle bei unseren Geschäftsnetzwerken wie Ariba bereits lange im Einsatz. Auch im Plattform-Geschäft sind verbrauchs-orientierte Abrechnungen ein zentraler Baustein. Denn dort nutzen Partner die SAP Cloud Plattform, um neue, aber eigene Geschäftsmodelle zu unterstützen. Das ist bei Siemens auch so.

Wie wichtig kann ein solches Modell langfristig für SAP werden?



Die SAP Cloud Plattform ist ein zentrales strategisches Element unserer Unternehmensentwicklung, weil sie verschiedene Zwecke erfüllt: Sie ist Entwicklungsplattform zur Erweiterung von SAP-Anwendungen und wird von unseren Kunden sehr stark nachgefragt. Daneben bieten wir mit der Plattform unserem Ökosystem die Möglichkeit, ganz neue Geschäftsmodelle darauf zu entwickeln. Das funktioniert sehr gut. Die Erlöse aus unserer Cloud-Plattform wachsen mit hohen dreistelligen Raten. Eingebaut sind darin Technologien wie Machine Learning und Schnittstellen in das Internet der Dinge...

...also die Vernetzung und Kommunikation von Gegenständen übers Web.



Genau. Diese werden für zusätzliche Dynamik sorgen. Von daher sind wir zuversichtlich, dass transaktionsbasierte Geschäftsmodelle in den nächsten zehn Jahren zu einem ganz wesentlichen Standbein unseres Geschäfts werden können.

SAP hat sich in den vergangenen Jahren bei Industrie 4.0 mit den Übernahmen von Plat.One, Fedem oder Altiscale verstärkt. War’s das oder sehen Sie hier weiteren Bedarf?



Wir haben immer gesagt, dass wir uns keine Marktanteile oder Kunden kaufen wollen, sondern Kompetenz und Lösungen zur Portfolio-Abrundung. Nun waren unsere weißen Flächen früher so groß, dass wir ein paar Mal tief in die Tasche greifen mussten. Mittlerweile sind die Lücken sehr klein geworden und damit verschiebt sich der Fokus unserer M&A-Aktivitäten auf die nächste Generation von Themen. Deshalb haben wir uns zuletzt genau in diesen Bereichen um Big Data-Anwendungen, Internet der Dinge oder Machine Learning verstärkt. Da könnten wir uns auch künftig kleinere Zukäufe vorstellen.