Herr Heller, am 23. Juni stimmen die Briten über den Verbleib in der EU ab. Die Brexit-Fans gewinnen weiter an Zuspruch. Die Börsen reagieren zunehmend nervös. Ist das nur Theaterdonner oder wird es womöglich wirklich ernst?


Die Umfragen melden ein Kopf-an-Kopf-Rennen, die Wetten bei dem Wettbüro "betfair" dagegen zeigen 72 Prozent für den Verbleib und nur 22 Prozent für den Austritt. Die Umfragen sind weniger zuverlässig, weil sie zum Teil auf Emotionen basieren. Doch beim Geld, das man bei Wetten einsetzt, setzt der Verstand ein. Daher sind die Wettergebnisse zuverlässiger und sie deuten mehrheitlich auf einen Verbleib der Briten in der EU hin.

Die Ermordung der Labour-Abgeordneten Jo Cox, die für den Verbleib geworben hat, dürfte sich negativ für die Brexit-Befürworter auswirken.

Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein Briten-Austritt denn für die britische Wirtschaft und die EU und Deutschland?


Die wirtschaftlichen Folgen wären auf beiden Seiten negativ, auf EU-Seite am meisten für Deutschland. Aber wirtschaftlich wäre der Schaden für die Briten am größten, vor allem beim Finanzsektor. Die City hat einen erheblichen Anteil, sowohl was Jobs als auch was das Steueraufkommen betrifft. Aus der Sicht der Briten stellt sich die EU wirtschaftlich alles andere als eine dynamische Wachstumszone dar. Die Zahlen des kumulierten Wirtschaftswachstums von 2000 bis 2015 liefern eine niederschmetternde Botschaft: Demnach betrug es in Großbritannien + 33%, in der EU + 21%, in Deutschland + 19% und in der Eurozone + 17%. Im Klartext: Das Wachstum in Großbritannien, das nicht den Euro eingeführt hat, war doppelt so hoch, wie das Wachstum in der Eurozone.

Ein Austritt eines Landes aus der EU müsste binnen zwei Jahren abgeschlossen sein. Ist das angesichts der engen Verflechtung realistisch oder droht eine lang anhaltende Phase der Unsicherheit?


Es ist zu erwarten, dass der Wunsch besteht, den Kollateralschaden für beide Seiten so gering wie möglich zu halten. Natürlich würde die EU darauf achten, den Briten nicht allzu viele Konzessionen zu machen, um nicht andere EU-Mitglieder zu ermutigen, es den Briten gleichzutun. Aber auch innerhalb Großbritanniens gäbe es große Verunsicherung. Die Schotten haben schon mit einem erneuten Referendum zum Austritt aus dem Vereinigten Königreich gedroht, denn sie profitieren sehr stark von der EU und wollen mehrheitlich in der EU bleiben. Auch in Nordirland, das wirtschaftlich sehr stark mit der Republik Irland verflochten ist, würde es große Schwierigkeiten geben. Würde die Volksbefragung diesmal erfolgreich verlaufen, würde Britannien ein Drittel seiner Landmasse verlieren. Die Brexit-Befürworter spielen mit dem Feuer: Aus "Großbritannien" könnte "Kleinbritannien" werden.

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Was würde ein Brexit und eine womöglich lange Phase der Unsicherheit denn für die Börsen bedeuten?


Für die Börsen wäre ein Brexit von geringerer Bedeutung. Die würden sehr schnell zur Tagesordnung übergehen. Im Fall des Verbleibs würden sie weltweit haussieren.

Auch das britische Pfund ist angesichts der Brexit-Diskussion arg unter Druck. Wie weit könnte das Pfund noch fallen, falls die Briten sich aus der EU verabschieden?


Ein großer Teil eines Brexits ist ja schon vorweggenommen, vor allem durch die beträchtliche Abwertung des Pfunds. Ich rechne nicht damit, dass das Pfund noch deutlich mehr abgewertet wird.

Viele Beobachter sehen auch weitreichende politische Folgen. Hat die EU ohne Großbritannien dauerhaft überhaupt noch eine Zukunft oder steht die Europäische Union nun an einem Scheideweg?


Ein Austritt der Briten würde die EU politisch in ihren Grundfesten erschüttern. Der Schaden wäre für Deutschland am größten, denn London steht, ähnlich wie unser Land, für Marktwirtschaft und Freihandel. Gerade für Deutschland sind enge Beziehungen zu Großbritannien unverzichtbar, weil das Land ein wichtiges Gegengewicht zu Frankreich und den Club-Med-Ländern darstellt. Ein Austritt Britanniens würde die Mehrheitsverhältnisse in der EU dramatisch zu Ungunsten Deutschlands verändern. Dann wäre Tür und Tor zu einer Transferunion, zu Vergemeinschaftung von Schulden und Bankeinlagen etc. geöffnet. Als zweitgrößter Nettozahler der EU würde Britanniens Abgang ein riesiges Loch in den EU-Haushalt reißen. Es bedarf keiner großen Fantasie, dass Deutschland dann die Hauptlast zu tragen hätte.

Aber es ist ja noch nicht aller Tage Abend?


Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Brexit (Austritt) und Bremain (Verbleib) ist gut, weil es für eine hohe Wahlbeteiligung sorgen und vor allem die Befürworter des Verbleibs zu den Wahlurnen treiben wird. Im Übrigen hat das Austrittslager vor allem mit Emotionen argumentiert. Es wurde gelogen, getrickst und betrogen, und die EU wurde ins Groteske deformiert. Der frühere Premierminister Sir John Major nannte die Kampagne der Brexit-Befürworter unehrlich, hinterlistig und schmutzig, und er bezeichnete ihren Anführer, Boris Johnson, als einen Hofnarren.

In der Tat ist Johnson ein krankhaft narzisstischer Mensch - das Ebenbild von US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump. Premierminister Cameron , der Gegenspieler Johnsons, hat dagegen vorwiegend mit wirtschaftlichen Faktoren argumentiert: was ein Austritt für Jobs, die Rentner, das Gesundheitssystem, die Hausbesitzer an Nachteilen und Risiken bringen würde. Sein großer Helfer ist die Angst vor der Ungewissheit, die persönliche Existenz. Es ist eine alte Tatsache, dass Wahlen mit der "Brieftasche" gewonnen werden. Ganz banal die Frage: "Wird es mir nach der Wahl besser oder schlechter gehen?" Und da hat Premierminister Cameron die besseren Karten.