Früher war es mit dem Öl ganz einfach: Bei Konflikten mit Ölförderländern stiegen unter tatkräftiger Mitwirkung der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) die Preise. Die etwas Älteren unter uns werden sich noch gut an die erste Ölkrise 1973 erinnern, als ein starker Ölpreisanstieg und die Angst vor einer Energieverknappung die Bundesregierung u.a. zu autofreien Sonntagen zwang. Bezüglich der zweiten Ölkrise 1979/80 habe ich noch den entsetzten Blick meines Vaters im Kopf, als er nach Auffüllung unseres Öltanks die Rechnung präsentiert bekam. Als grundsätzlicher Ölpreistreiber avancierte nicht zuletzt das Schreckgespenst endlicher Ölvorräte. So häufig wie das Amen in der Kirche wurde von den Oil Peak-Anhängern über Jahrzehnte verkündet, alle bedeutenden Ölvorkommen seien erstens bekannt und hätten zweitens ihren Förderhochpunkt längst hinter sich. Unterstützt wurde diese Vision eines sinkenden Angebots durch eine rasant steigende Energienachfrage aus den Schwellenländern. Insgesamt, seit den frühen 70er-Jahren hatte sich der Ölpreis in der Spitze bis 2008 ca. verdreißigfacht.

Auf Seite 2: Wenn nicht jetzt, wann dann wären Sorgen über die Energieversorgung angebracht?

Wenn nicht jetzt, wann dann wären Sorgen über die Energieversorgung angebracht?

Der alten Logik folgend müssten der Öl-, aber auch der Gaspreis aktuell neue Höhenflüge machen. Immerhin wollen islamische Terroristen die politische Landkarte im Nahen Osten neu gestalten. Viele der dortigen Ölfelder und Raffinerien befinden sich bereits in ihrer Hand. Und für Russland als Global Player in der Öl- und vor allem Gasversorgung wäre es doch ein leichtes Spiel, als Gegensanktion zu westlichen Strafmaßnahmen die Energieversorgung Europas zu unterbrechen oder zumindest einzuschränken. Aber was machen der Öl- und der Gaspreis? Nach einer drastischen Preisexplosion bei Naturgas Anfang 2014 hat der Preis wieder um 50 Prozent nachgegeben. Und der Ölpreis? Der ruht seit Anfang 2013 still wie der See zur Winterzeit.

Sind die Konflikte im Nahen Osten und in der Ukraine etwa beendet? Nein? Und warum reagieren dann die Energiepreise nicht wie nach alter Väter Sitte?

Auf Seite 3: Energiekrisen können sich die Energieförderländer gar nicht mehr leisten

Energiekrisen können sich die Energieförderländer gar nicht mehr leisten

Offensichtlich haben wir es mit einem grundlegenden Strukturbruch zu tun. Die alten Verlaufsmuster an den Energiemärkten taugen nicht mehr. Das liegt zunächst am Zauberbegriff "Energieeffizienz". Die großen Industrieländer Deutschland, Japan und selbst die USA - eigentlich nicht gerade für sparsame Energienutzung bekannt - kommen heute Askese verdächtig mit der Hälfte der Ölmenge der 80er-Jahre aus. Und von "Öko-Stalinismus" oder "Jute statt Plastik" spricht heute auch niemand mehr, wenn es um fünffach verglaste Fensterscheiben, flächendeckende Solardächer oder rollierende Windanlagen geht. Selbst die Volkswirtschaften der Schwellenländer sind auf dem besten Wege, ähnlich geizig mit Energie umzugehen wie Onkel Dagobert mit seinen Dukaten.

Energiepreisentspannend ist aber auch das eigene finanzielle Hemd, das z.B. Russland näher als der außenpolitische Rock ist. Russlands Staatshaushalt bricht ohne die Einnahmen aus Energieverkäufen das Fundament weg. Und selbst die islamischen Terroristen finanzieren ihr aggressives Schreckensregime über Ölverkäufe aus den von ihnen besetzten Gebieten. Ohnehin ist eine Verknappung des Öls aus dem Nahen Osten unwahrscheinlich. Denn die öl- und gasverbrauchenden Länder würden sich im Bedarfsfall freiwillig und zügig in einer Energie-Koalition der Willigen einfinden. Mit Blick auf ihre energierisikofreie Prosperität hätte niemand von ihnen etwas dagegen, wenn islamistische Terroristen unter amerikanischer Militärführung so schnell wie möglich von der Landkarte verschwinden.

Auf Seite 4: Das "alte" und das "neue" Öl

Das "alte" und das "neue" Öl

Grundsätzlich hat die OPEC sich selbst den Ast abgesägt, auf dem sie saß. Öl kommt schon lange nicht mehr nur aus dem OPEC-Raum. Die Not Amerikas, von teurem, politisch womöglich verknappten Ölimporten abhängig zu sein, hat das Land erfinderisch gemacht. Amerika musste neue Energie-Wege finden, um vom alten Öl wegzukommen. Zunächst hat Amerika das Tiefseebohren im Golf von Mexiko revolutioniert. Der neue Energie-Segen stammt aber auch aus einer immer kosteneffizienteren Förderung von Öl und Gas aus Schiefergestein und Teersänden mittels Fracking. Und siehe da, bis 2020 werden die USA nicht nur zum unabhängigen Selbstversorger, sondern sie haben so viel davon, dass sie es exportieren können. Ich stelle mir gerade vor, wie ein genüsslich lachender J.R. Ewing aus der US-Kult-Serie "Dallas" seiner Freude über das neue Öl freien Lauf lässt. Ohne Zweifel haben die Tiefseebohrung - wie bereits 2010 im Golf von Mexiko passiert - und die Fracking-Methode ihren sehr bedenklichen, umweltpolitischen Nachgeschmack. Aber für die USA hat eine sichere Energieversorgung oberste Priorität. Das gilt ebenso für andere Länder, die auch auf das das neue Öl setzen.

Auf Seite 5: Wohin geht der Ölpreis?

Wohin geht der Ölpreis?

Insgesamt ist damit für mich ein theoretischer Preisschock bei Öl und Gas praktisch vom Tisch. Steigt der Preis für altes Öl zu stark, wird eben mehr neues tiefseegebohrt oder gefrackt. Ich wage die Prognose, dass der Ölpreis - abseits von schweren geopolitischen Schocks - nicht nur konstant bleiben, sondern sogar fallen wird. Hiervon wird auch Europa preislich profitieren. Unseren Motoren oder Heizungen ist es völlig gleichgültig, ob die Energie aus dem Nahen Osten, der Nordsee, aus Russland oder aus Amerika, auch in Form von Flüssiggas, kommt. Hauptsache, es kommt.

So kann unser Ölpreis mittelfristig von derzeit knapp 100 Dollar pro Barrel sogar auf 80 fallen. Für die europäischen Volkswirtschaften wäre dies gleichbedeutend mit einer massiven Zinssenkung, von der allerdings nicht nur Kreditnehmer, sondern alle Europäer profitieren, die direkt oder indirekt von Energiefragen betroffen sind. Stellen Sie sich nur einmal fallende Heiz- und Tankrechnungen vor. Die würden unserer Konsumlaune wie bei einem Energy Drink Flügel verleihen. Und auch die europäische Industrie freut sich: Wenn die Margen steigen, steigen die Unternehmensgewinne und die Aktienkurse. Und dann haben die Aktionäre noch einen energieseitigen Vorteil.

Bleibt zum Schluss nur noch die Hoffnung, dass uns Vater Staat keinen Strich durch unsere deflationierten Heiz- und Tankrechnungen macht. Er könnte auf die Idee kommen, sinkende Energiepreise klammheimlich durch höhere Energiesteuern auszugleichen. Denn insgesamt wird es ja nicht teurer. Zuzutrauen wäre es ihm. Energie-Auge sei wachsam!

Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank.