2016 wird sich entscheiden, ob die EU in ihrer jetzigen Form weiter existieren wird. Das klingt dramatisch. Aber dafür sorgt schon das in der zweiten Jahreshälfte erwartete britische Referendum über den Verbleib des Landes in der EU. Entscheiden sich die Briten gegen die Europäische Union, dann verliert die EU nicht nur den drittgrößten Mitgliedstaat, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel vor wenigen Tagen warnte. Ein Austritt, so fürchten viele, könnte auch einen Zerfallsprozess in der gesamten EU einleiten und die ohnehin starken nationalistischen Strömungen in vielen Staaten weiter anheizen.

Zum Jahresende häufen sich deshalb düstere Warnungen, dass Europa am Rand eines Zerfalls stehe. Derart äußerte sich etwa der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz. In der Bundesregierung gibt man sich allerdings betont gelassen, was die Gefahr eines Auseinanderbrechens der Union betrifft. Es wird verwiesen auf ständige Auf- und Ab-Bewegungen in der EU in den vergangenen Jahrzehnten. "Am Ende erkennen Regierungen immer, dass die europäische Zusammenarbeit ihren Ländern am meisten nutzt", heißt es in Berliner Regierungskreisen.

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Flüchtlingszustrom - Krise mit Sprengpotenzial



Aber vor allem die Flüchtlingskrise gilt im kommenden Jahr als eine der größten Herausforderungen für die EU. Gemeinsame Antworten hat die Gemeinschaft bislang nicht gegeben. Denn die Ankunft von geschätzten 1,5 Millionen Menschen in diesem Jahr hat viele EU-Länder in Probleme gestürzt und die Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten erheblich erhöht. Erst am Mittwoch kritisierte der tschechische Ministerpräsident Bohuslav Sobotka Deutschland und Bundeskanzlerin Angela Merkel in der "Süddeutschen Zeitung" für eine angeblich zu einladende Politik in der Flüchtlingskrise.

Schulz und Österreichs Kanzler Werner Faymann (SPÖ) wiederum drohen Osteuropäern wegen mangelnder Solidarität offen mit Finanzsanktionen der EU. Geht der Zustrom 2016 nicht zurück, sondern kommen noch mehr Flüchtlinge und Migranten über die Türkei oder das Mittelmeer, wird die Auseinandersetzung über den Grenzschutz oder die Verteilung von Flüchtlingen in der EU an Schärfe zunehmen.

Dazu kommt, dass rechtsnationalistische Regierungen etwa in Ungarn oder nun auch in Polen ohnehin an dem rechtsstaatlichen Grundgerüst der EU zu rütteln scheinen. Einmischung der EU an der kritisierten Einschränkung der Gewaltenteilung verbitten sich beide Regierungen jedenfalls - was 2016 eine offene Debatte über die Frage bringen wird, was eigentlich die gemeinsame Wertebasis mit Ländern wie Polen ist.

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Aufwind der Rechts- und Linkspopulisten



Dazu kommen anhaltende Differenzen über den wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs der EU und vor allem der Euro-Zone. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi, der innenpolitisch unter Druck steht, kritisiert die vor allem von Deutschland eingeforderte Spar- und Reformpolitik. In Griechenland und Portugal warten linke Regierungen auf eine Lockerung der Sparvorgaben. Schon im Januar könnte die griechische Dauerkrise erneut eskalieren, wenn die Regierung von Alexis Tsipras ihre Rentenreform nicht durch das Parlament bringen sollte.

Generell verspüren in vielen EU-Staaten auch wegen der nur langsam sinkenden Arbeitslosenzahlen rechts- und linkspopulistische Parteien Aufwind, die allesamt nur eines verbindet - die Gegnerschaft zur EU-Integration. Abhilfe könnte hier wohl nur ein dauerhafter wirtschaftlicher Aufschwung bringen, für den es derzeit auch Hinweise gibt. In Spanien und Polen allerdings wurden Regierungen jüngst trotz guter Wachstumszahlen abgewählt.

Gerade aus Sicht der beiden wichtigsten EU-Staaten wäre eine wirtschaftliche Erholung und ruhigere Debatten bitter nötig: Denn die Regierungen in Deutschland und Frankreich hatten 2016 eigentlich als ruhige Zwischenphase geplant, in der neue Integrationsschritte für die Wirtschafts- und Währungsunion in Angriff genommen werden können. Bereits Anfang Dezember hatte sich die große Koalition dazu in Berlin auf Vorschläge geeinigt, die nun nach Brüssel übermittelt wurden. Aber wie lange die enge Zusammenarbeit zwischen Frankreichs Präsident Francois Hollande und Merkel noch anhalten wird, ist unklar: In der Flüchtlingskrise gibt sich Paris auch aus Angst vor dem rechtsextremen Front National reserviert. In Berlin wiederum verfolgt man misstrauisch, dass die Sozialisten in Paris Jahr für Jahr die Defizitziele im Europäischen Stabilitätspakt verfehlen - und wohl auch weiter verfehlen werden.

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Alle gegen Deutschland?



Unabhängig davon wird sich wohl vor allem Merkel auf mehr Widerstand einstellen müssen. Das liegt auch an der gewachsenen Rolle und Bedeutung Deutschlands. 2015 spielte die Bundesregierung eine zentrale Rolle sowohl bei der Deeskalation in der Ukraine sowie in der Griechenland- und der Flüchtlingskrise. Die deutsche Außenpolitik ist so aktiv, dass Deutschland auf informeller Basis mittlerweile fast auf Augenhöhe mit den fünf ständigen Veto-Mächten des UN-Sicherheitsrates verhandelt - etwa bei Iran oder Syrien. Das macht nicht nur den Italiener Renzi neidisch, der nun über deutsche Dominanz mault. Bei fast allen wichtigen Themen müssen sich EU-Partner nun an der einflussreichen deutschen Position abarbeiten.

Das vertieft die Kluft in der EU zumindest auf den ersten Blick. 2016 plant die Bundesregierung deshalb mehr gemeinsame Initiativen mit einem oder mehreren EU-Staaten - mit Italien etwa zur Befriedung des vom Bürgerkrieg zerrütteten nordafrikanischen Landes Libyen. Die ausdrückliche Einbindung Roms hierbei könnte dann auch das Verhältnis zu Renzi wieder etwas entspannen.

rtr