In wirtschaftspolitischen Fragen steht die konservative britische Regierung von Premierminister David Cameron den deutschen Koalitionspartnern CDU und CSU näher als etwa die sozialistische Regierung in Frankreich. So pocht Cameron auf größere Wettbewerbsfähigkeit der Europäer, einen Abbau bürokratischer Lasten und die Vollendung des Binnenmarktes etwa bei Dienstleistungen. Doch die Gemeinsamkeiten haben ihre Grenzen. Bei Schritten, die ihre nationale Souveränität antasten könnten, zeigten die Briten eine Blockadehaltung. So blieben sie etwa dem EU-Fiskalpakt fern, der eine straffere Haushaltsführung vorsieht.
In der Bundesregierung hofft man, dass die britische Regierung sich stärker zugunsten Europas engagiert, wenn ihre Landsleute sich für eine weitere EU-Mitgliedschaft entscheiden. Falls das Gegenteil eintritt, würde Deutschland mit seiner liberal-marktwirtschaftlichen Orientierung einen bedeutenden Partner in der Auseinandersetzung mit Frankreich verlieren.
BERLIN WÄRE IN DER AUSSENPOLITIK STÄRKER GEFORDERT
Gravierend wären auch die Auswirkungen in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Europäer beklagen zwar, dass das Vereinigte Königreich auf diesem Feld in den vergangenen Jahren eine verstärkte Zusammenarbeit torpediert habe. Aber einen Brexit wollen sie dennoch nicht. "Die EU ohne die Briten als Partner hätte nicht dasselbe Gewicht wie eine EU mit den Briten", warnt Merkels außenpolitischer Berater Christoph Heusgen. "Der Idealfall wäre, wenn die Briten drinbleiben, sich aber nicht mehr gegen die Schritte anderer EU-Staaten hin zu einer stärkeren außen- und sicherheitspolitischen Integration sperren", sagt der CDU-Politiker Elmar Brok, der dem Auswärtigen Ausschuss im EU-Parlament vorsitzt. Er hofft, dass sich eine "Koalition der Willigen" bildet, die sich auf eine militärische Lastenteilung, den erstmaligen Einsatz von EU-Kampfgruppen und die Schaffung eines EU-Hauptquartiers verständigt.
Dass Deutschland bei einem Brexit als wirtschaftlich stärkste Macht allein die EU-Außenpolitik bestimmen würde, erwartet Brok nicht. Frankreich sei ein militärisch starker Partner, der sich bislang im Nahen Osten und Afrika deutlich stärker einbringe als Deutschland. Zudem wäre Großbritannien als Nato-Mitglied in die Diskussion über die europäische Sicherheitspolitik weiter eingebunden. Bei einem Abschied des Landes aus der EU wäre Deutschland hier zwar mehr gefordert, heißt es in der Bundesregierung. Aber die UN-Veto- und Atommächte Frankreich und Großbritannien würden weiter die militärisch dominierenden Staaten in Europa bleiben.
WANN KOMMT DIE RÜCKKEHR AUF DIE WELTPOLITISCHE BÜHNE?
In der Sicherheitspolitik wird nach dem Referendum ein selbstbewussteres Auftreten der britischen Regierung erwartet. Weil er nicht mehr auf Abstimmungen schielen muss, könnte Cameron im Falle eines Verbleibs in der EU seine außenpolitische Zurückhaltung aufgeben, die bereits vor seiner Wiederwahl im Frühjahr 2015 sichtbar wurde. Auslöser dafür war nach Einschätzung von Diplomaten, dass das Unterhaus Cameron 2013 die Vollmacht für Luftangriffe auf Syrien verweigerte. Zwar beteiligt sich Großbritannien mittlerweile an Luftschlägen gegen die IS-Miliz und hielt Anfang Februar eine Geberkonferenz für syrische Bürgerkriegsopfer ab. Aber diese Schritte bedeuteten noch keine demonstrative Rückkehr auf die weltpolitische Bühne.
Im Endspurt vor dem Volksentscheid spielen außen- und sicherheitspolitische Fragen auf der Insel nur eine nachgeordnete Rolle. Ein Bericht der Zeitung "The Times" über einen angeblichen Geheimplan, der die Schaffung einer EU-Armee nach einem Brexit vorsehe, löste nur mäßige Aufregung aus. Bis sich die EU in Fragen von Krieg und Frieden zu einem einheitlichen Vorgehen durchringt, ist es ohnehin noch ein weiter Weg - ob mit oder ohne die Briten. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker beschrieb die Situation einmal mit bissiger Ironie: "Wenn ich mir die gemeinsame europäische Verteidigungspolitik anschaue, dann ist ein Hühnerhaufen eine geschlossene Kampfformation dagegen."
Reuters