BÖRSE-ONLINE.de: Das Börsenjahr 2021 stand ganz im Zeichen von Corona, der Bundestagswahl, Inflation, Lieferengpässen und DAX-Rekorden. Wie haben Sie das abgelaufene Jahr erlebt?
Carsten Klude: Aus meiner Sicht war 2021 ein gutes Aktienjahr, in dem der DAX allerdings nicht mit anderen Indizes mithalten konnte. Mit einer Wertsteigerung von 14 Prozent (Stand: 10.12.2021) hat er zwar unsere und die meisten Prognosen vom Jahresbeginn weit hinter sich gelassen, dennoch war beispielsweise mit französischen oder niederländischen Blue Chips ein doppelt so starker Wertzuwachs zu erzielen. Auch US-Aktien schnitten - wieder einmal - besser ab. Seit Mai befindet sich der DAX in einer relativ engen Handelsspanne, und die zu beobachtende Seitwärtsbewegung ist vor allem das Ergebnis der enttäuschenden wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland. Dass deutsche Aktien selbst nach dem relativ klaren und stabilen Ergebnis der Bundestagswahl nicht besser abschneiden konnten, hat mich etwas überrascht. Denn mit den Themen Corona, Inflation und Lieferengpässen haben alle anderen internationalen Börsen auch zu tun. Aber was nicht ist, kann ja noch werden: Unseres Erachtens hat der DAX noch Nachholpotenzial!
Welche Auswirkungen hat die Zuspitzung der Pandemie für die deutsche Wirtschaft und wie stark schlägt das weiter auf die Preise durch?
Die deutsche Wirtschaft hat einen starken Fokus auf das verarbeitende Gewerbe mit dem Automobilsektor im Zentrum des Geschehens sowie den Exporten. Damit leidet sie überdurchschnittlich stark unter den globalen Lieferkettenproblemen, fehlenden Speicherchips, hohen Transport- und Rohstoffkosten sowie fehlenden Vorleistungsgütern. All diese Probleme sind in erster Linie auf die Corona-Pandemie zurückzuführen, die die "normalen" Angebots- und Nachfragebedingungen stark verzerrt hat. Dies ist auch der Hauptgrund für den starken Inflationsanstieg, der vor allem auf die hohen Energiepreise sowie auf Basiseffekte im Zusammenhang mit der Veränderung der Mehrwertsteuer sowie der CO2-Bepreisung zurückzuführen ist.
Ist der gegenwärtige Inflationsschub vorübergehend oder länger andauernd?
Da es bislang noch keine Indizien für eine Lohn-Preis-Spirale gibt, dürfte die Signalwirkung der höheren Preise nach und nach zu einer Angebotsausweitung und einer Nachfragereduzierung bei besonders teuren Gütern und Dienstleistungen führen. Die Inflationsrate wird 2022 dennoch nur langsam sinken und in der ersten Jahreshälfte noch deutlich über der Zwei-Prozent-Marke liegen. Erst in der zweiten Jahreshälfte wird sich die Situation entspannen. Für das Schlussquartal rechnen wir damit, dass die Inflationsrate in Deutschland wieder unter zwei Prozent liegen wird.
Droht der deutschen Wirtschaft im Winterhalbjahr erneut eine Rezession?
Die deutsche Wirtschaft wird im Winterhalbjahr ähnlich wie vor einem Jahr kaum wachsen, von einer Rezession gehen wir aber nicht aus. Zwar ist noch wenig über die Omikron-Variante bekannt, doch erwarten wir nicht, dass es in Deutschland zu flächendeckenden Lockdown-Maßnahmen kommen wird. Dennoch erhöht sich das Risiko eines Wachstumsrücksetzers, wobei festzuhalten ist, dass in der Vergangenheit der wirtschaftliche Schaden mit jeder neuen Welle des Virus geringer ausgefallen ist. Da die deutschen Unternehmen über rekordhohe Auftragsbestände verfügen, sollte dies zu einem kräftigen Wachstumsschub bei der Industrieproduktion und den Exporten führen. Da die privaten Haushalte zudem im Durchschnitt immer noch über eine enorm hohe Sparquote verfügen, wird der private Verbrauch nächstes Jahr ebenfalls überdurchschnittlich stark wachsen. Aufs Gesamtjahr gerechnet dürfte sich beim Konsum ein Zuwachs von gut sieben Prozent ergeben - ebenso wie bei den Ausfuhren. Wir erwarten deshalb für 2022 ein Wirtschaftswachstum in Deutschland von etwas mehr als vier Prozent.
Vor allem der Chipmangel und die allgemeinen Lieferengpässe haben das abgelaufene Jahr belastet. Welche Unsicherheiten erwarten die Aktienmärkte im neuen Jahr?
Neben den Unsicherheiten, die neue Virus-Mutationen mit sich bringen können, spielt vor allem das Thema Inflation und die Reaktion der Notenbanken eine Hauptrolle für die Entwicklung der Aktienmärkte. Aber auch geopolitische Krisenherde mit den Konflikten zwischen Russland und der NATO, die Sorge vor einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen China und Taiwan sowie der anhaltende Atomstreit mit dem Iran sollte man nicht aus dem Blick verlieren.
Lieferengpässe waren 2021 ein allgegenwärtiges Thema. In ersten Bereichen ist eine leichte Erholung zu spüren. Wie geht es weiter?
Das gleichzeitige "Reopening" vieler Volkswirtschaften ab dem Frühjahr des abgelaufenen Jahres ist geradezu explodiert und die Container-Charterraten sind aufgrund von Transportengpässen stark angestiegen. Hinzu kam, dass chinesische Häfen aufgrund von Corona-Erkrankungen von Hafenarbeitern geschlossen wurden. Fehlende Transportkapazitäten und die Havarie der "Ever Given" im Suezkanal haben diese Situation noch verschärft. Mittlerweile zeichnet sich eine Normalisierung beim Wachstum des internationalen Handelsvolumens ab. Der Aufwärtstrend der Frachtraten scheint beendet zu sein. Das aus unserer Sicht plausibelste Szenario ist, dass es 2022 zu einer Normalisierung auf allen Problemfeldern kommt, die mit dem Thema Lieferketten zu tun haben.
Die US-Notenbank Fed hat bereits seit längerem eine Zinswende auf ihrer Agenda stehen. Welche Schritte erwarten Sie als nächstes?
Positive konjunkturelle Rahmenbedingungen, eine weitere Erholung des Arbeitsmarktes sowie ein deutlicher Anstieg der Inflation und der Inflationserwartungen bilden die Basis für die Zurückführung der sehr expansiven Geldpolitik der US-Notenbank. Seit November werden die monatlichen Anleihenkäufe von ursprünglich 120 Milliarden US-Dollar um jeweils 15 Milliarden US-Dollar reduziert ("Tapering"). Auf der Dezember-Sitzung wurde eine Verdoppelung des monatlichen Taperings beschlossen. Damit wird das Kaufprogramm spätestens Ende des ersten Quartals 2022 beendet sein, wenn nicht etwas Unvorhergesehenes dazwischenkommt.
Eine restriktivere Geldpolitik bedeutet das aber zunächst noch nicht. Die US-Notenbank wird weiterhin alle Fälligkeiten der Anleihen aus ihrem Bestand wieder anlegen, sodass die Bilanzsumme der Notenbank unverändert bleibt. Allerdings verschafft sich die Fed mit dem schnelleren Ausstieg aus den Anleihekäufen mehr Flexibilität, um bei anhaltend hohen Inflationsraten schon im zweiten Quartal eine erste Zinserhöhung zu beschließen. Sollte es bis dahin nicht zu einem konjunkturellen Dämpfer kommen, könnte im Mai oder Juni 2022 eine erste Zinserhöhung von 25 Basispunkten beschlossen werden. Der Hintergrund: Bis dahin wird immer noch eine Inflationsrate von rund vier Prozent beziehungsweise einer Kerninflationsrate von drei Prozent erwartet. Eine weitere Zinserhöhung könnte dann im September folgen. Erst für das vierte Quartal rechnen wir damit, dass sich die Inflationsrate wieder der Zwei-Prozent-Marke nähert. Von daher halten wir die aus den Fed-Funds-Futures abzuleitenden Zinserhöhungserwartungen - erster Schritt im Mai, zweiter Schritt im September, dritter Schritt im Dezember - für übertrieben.
Wegen der Inflation müsste die EZB eigentlich eine restriktivere Geldpolitik fahren, will aber gleichzeitig die Konjunktur nicht ausbremsen. Wie wird die EZB weiter vorgehen?
In den letzten Wochen haben EZB-Präsidentin Christine Lagarde und die meisten ihrer Kollegen immer wieder darauf hingewiesen, dass die sehr expansive Geldpolitik noch über einen längeren Zeitraum Bestand haben wird. Damit traten sie Marktspekulationen, die Zentralbank könnte die Leitzinsen schon 2022 erhöhen, entgegen. Allerdings zeigt sich bei den Meinungen der EZB-Räte ein gewisses "Nord-Süd-Gefälle", wobei die Mitglieder aus den südlichen Ländern jedoch die Mehrheit haben. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass es sich nicht lohnt, sich gegen die Notenbanken zu stellen, daher gehen wir davon, dass der EZB-Rat den Ankündigungen auch Taten folgen lassen wird. Das Pandemic Emergency Purchase Programm PEPP wird zwar wie erwartet im März 2022 auslaufen. Aber über eine Veränderung des kleineren Asset Purchase Programme APP in ein APP 2.0 wird die Europäische Zentralbank auch weiterhin am Kapitalmarkt Anleihen kaufen und zudem sämtliche Fälligkeiten reinvestieren.
Der Leitzins verharrt auf einem Rekordtief. Kann die EZB ihre lockere Geldpolitik überhaupt noch anziehen?
Neben einer möglichen Abkehr vom Kapitalschlüssel ist auch das Volumen des APP modifiziert und eine flexiblere Handhabung beschlossen worden. Denn die Volkswirte der EZB gehen davon aus, dass die Inflation im Jahresverlauf 2022 deutlich sinken wird und somit eine expansive Geldpolitik weiterhin angemessen ist. Von daher rechnen wir damit, dass die EZB frühestens im zweiten Halbjahr 2023, aber wahrscheinlich erst 2024 damit beginnen wird, die Leitzinsen zu erhöhen, auch wenn der Kapitalmarkt, gemessen an den Euribor-Futures, derzeit noch zu einer anderen Einschätzung kommt.
Die Fed startet die Zinswende und zieht die Geldpolitik an. Die EZB bleibt bei ihrem lockeren geldpolitischen Kurs. Die Notenbanken driften weiter auseinander - welche Folgen hat das?
Da für das kommende Jahr bereits eine deutlichere geldpolitische Wende erwartet wird, gehen wir davon aus, dass sich die Rendite für 10-jährige US-Treasuries nur sehr moderat erhöhen wird. Für das Jahresende prognostizieren wir einen Renditeanstieg auf 2,0 Prozent, wobei wir eine Bandbreite von 1,75 bis 2,25 Prozent für möglich halten. Größter Risikofaktor bei dieser Prognose ist die Inflationsentwicklung. Sollte die Inflation im Jahresverlauf nicht wie von uns erwartet spürbar sinken, könnte die US-Notenbank gezwungen sein, früher und deutlicher zu reagieren. Das hätte entsprechende Auswirkungen auf die Kapitalmarktrenditen. Für die Entwicklung der Rendite für 10-jährige Bundesanleihen bedeutet dies aus unserer Sicht im kommenden Jahr nur wenig Veränderung. Da sich Europa aber nicht vollständig von der Entwicklung der US-Treasuries abkoppeln kann, erwarten wir zum Jahresende eine Rendite für 10-jährige Bundesanleihen von +0,1 Prozent, wobei die erwartete Bandbreite zwischen -0,1 und +0,3 Prozent liegt. Für Anleger bedeutet dies, dass man mit Staatsanleihen aus der Eurozone und den USA aufgrund der zu erwartenden Kursverluste auch im nächsten Jahr eine negative Wertentwicklung erzielen wird. Diese dürfte im Laufzeitsegment von zehn Jahren rund zwei bis drei Prozent betragen.
Die erwartete Abkehr der US-Notenbank von der expansiven Geldpolitik hat zu einer Ausweitung des Zinsvorteils am US-Geld- und Kapitalmarkt geführt. Unterstützt wird dies von den Inflationserwartungen. Auch diese liegen im Dollarraum deutlich über denen des Euroraums. Aus diesem Grund erwarten wir eine weitere, moderate Aufwertung des Wechselkurses auf 1,10 EUR/USD bis Ende nächsten Jahres. Zwischenzeitlich sind auch Kurse von bis zu 1,06 EUR/USD denkbar. Mit einer noch stärkeren Aufwertung wäre wohl nur für den Fall zu rechnen, wenn sich die höhere Inflation aufgrund einer Lohn-Preis-Spirale selbst verstärken würde. Dann sind schnellere und stärkere Zinserhöhungen in den USA zu erwarten, die spätestens 2024 oder 2025 zu einer Rezession führen könnten. Doch das ist nicht unser favorisiertes Szenario.
Wie sollten sich Anleger in einem inflationären Umfeld positionieren?
Gold genießt zwar den Ruf als Inflationsschutz, da der Goldpreis mittelfristig die Geldentwertung ausgleichen soll. Kurzfristig korreliert die Preisentwicklung allerdings nicht sehr stark mit der Inflationsrate. Aufgrund der Eigenschaften als zinsloses Edelmetall steigen im inflationären Umfeld potenziell auch die Opportunitätskosten. Mit zunehmender Inflation werden auch weiter steigende Zinsen erwartet. Gold und Krypotwährungen haben die begrenzte Verfügbarkeit gemeinsam, allerdings müssen letztere erst noch beweisen, dass auch sie mittelfristig die Geldentwertung ausgleichen. Bisher wurde die Kursentwicklung maßgeblich durch andere Nachrichten beeinflusst. Aktien profitieren von einem leicht inflationären Umfeld, sofern keine deutlichen Zinsanhebungen seitens der Zentralbanken drohen. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind positiv für das Wachstum und die Unternehmensgewinne, Anleihen bieten allerdings noch keine attraktive Investmentalternative. Im Aktiensegment sollten die Unternehmen profitieren, die über eine starke Preissetzungsmacht verfügen und deren Produkte eine starke Nachfrage erfahren. Die Immobilienpreise sollten insbesondere in den Ballungszentren von der weiter anhaltenden stabilen Nachfrage profitieren. Aufgrund der überwiegend langfristigen Finanzierung der Immobilien sollten kurzfristig steigende Zinsen nicht negativ auf den Immobilienmarkt durchschlagen.
Der DAX wurde im September von 30 auf 40 Werte aufgestockt. Das bedeutete auch im MDAX und SDAX massive Veränderungen. Wie bewerten Sie diese Neuerungen in den ersten Monaten seit Umstellung?
Bis dato sind die Veränderungen im neuen DAX 40 kaum spürbar, da die zehn neu hinzugefügten Titel mit Ausnahme der Airbus über eine insgesamt geringe Gewichtung verfügen. Insofern hat sich die Charakteristika des DAX kaum verändert. Mit Blick auf die kommenden Jahre erwarten wir, dass der DAX 40 für Investoren interessanter wird, da die Marktkapitalisierung angestiegen ist und sich die Diversifikation zumindest mittelfristig verbessern sollte. Für den neuen MDAX sind die Veränderungen dagegen deutlich gravierender, da der MDAX mit der Reduzierung von 60 auf 50 Titel einen Großteil seiner Marktkapitalisierung verloren hat. Die nunmehr geringere Marktkapitalisierung macht den Index nun für große Investoren uninteressanter, da die Liquidität an der Börse abgenommen hat. Allerdings bekommt man nun ein Portfolio, welches die mittelgroßen deutschen Unternehmen aufgrund der kompakteren Indexstruktur und homogeneren Aktiengewichtung besser abdeckt.
Mit welchem DAX-Stand rechnen Sie Ende 2022?
Wie anfangs geschildert erwarten wir, dass die deutsche Wirtschaft im nächsten Jahr über Aufhol- und Nachholpotenzial verfügt und somit stärker wachsen wird als andere Volkswirtschaften. Dies sollte auch den Unternehmensgewinnen zugutekommen. Für den DAX prognostizieren die Unternehmensanalysten gemäß des Datenbankanbieters Factset nur ein Gewinnwachstum von gut vier Prozent und damit deutlich weniger als für die meisten anderen Indizes. Da der DAX zudem ein im internationalen Vergleich sehr moderates Kurs-Gewinn-Verhältnis von rund 14 aufweist rechnen wir mit einem Anstieg auf 18.000 Punkte zum Jahresende 2022.