BOERSE-ONLINE.de: 2019 litten die Börsen weltweit unter politischen wie auch wirtschaftlichen Unsicherheiten wie etwa dem Brexit oder dem US-Handelsstreit mit China. Welche Unsicherheiten stehen 2020 besonders im Fokus?
Carsten Mumm: Mit Sicherheit werden Handelskonflikte auch in 2020 immer wieder die Schlagzeilen beherrschen. Hinzu kommt die anstehende US-Präsidentschaftswahl. Je nach Stand der Umfragewerte, dürfte vor allem Amtsinhaber Trump immer wieder für überraschende Äußerungen und Aktionen sorgen, um seine Politik in ein besseres Licht zu rücken. Generell hat er aber ein Interesse an einem stabilen Verlauf für Konjunktur und Kapitalmärkte, weshalb der Wahlkampf die Lage eher stabilisieren sollte. Auch in Europa könnten politische Entwicklungen für zwischenzeitliche aber regional begrenzte Unsicherheiten sorgen, etwa instabile Regierungskonstellationen in Spanien, Italien oder im Falle eines Platzens der Großen Koalition gegebenenfalls auch in Deutschland. Aus konjunktureller Sicht bleibt die Frage, ob die globale Wachstumsdelle ihren Boden gefunden hat oder doch noch einzelne Volkswirtschaften beziehungsweise Regionen in eine Rezession abrutschen.

Ist eine Entspannung bei den aktuellen Dauerbrennern Brexit und Handelsstreit in Sicht?
Mit der Mehrheit der Tories in Großbritannien bei den Parlamentswahlen ist mit einer Ratifizierung des mit der EU ausgehandelten Austrittsvertrags zu rechnen. In diesem Fall wäre das größte Risiko, ein ungeregelter Brexit, vorerst gebannt. Im Handelsstreit zwischen China und den USA ist im ersten Quartal 2020 mit der Unterzeichnung eines ersten Teilabkommens (Phase I) zu rechnen. Beide Parteien stehen unter dem Druck, endlich auch einmal konkrete Ergebnisse präsentieren zu müssen. Ansonsten könnten langsam Zweifel entstehen, ob eine Kompromissfindung überhaupt irgendwann einmal möglich ist. Grundsätzlich werden Handelskonflikte zwischen diesen beiden Staaten aber auch zwischen beispielsweise den USA und Europa mit Sicherheit noch jahrelang auf der Agenda stehen. Hintergrund ist, dass derzeit eine fundamentale Umorientierung jahrzehntelang gültiger wirtschaftlicher, technologischer und militärischer Machtgefüge stattfindet. Die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einzige verbliebene globale Weltmacht USA wird durch die kommende wirtschaftliche Nummer eins China herausgefordert. Der Handelskonflikt ist in diesem Sinne auch ein Werkzeug, um den Aufstieg Chinas zumindest zu verzögern. Den derzeit in vielen Regionen vorherrschenden wirtschaftspolitischen Trend zu mehr Protektionismus dürfte auch Europa in den kommenden Monaten zu spüren bekommen, indem einzelne Staaten und Branchen mit direkten Handelskonflikten konfrontiert werden.

Aus heutiger Sicht: Welche Themen dürften die Börsen 2020 sonst noch beschäftigen?
In Europa dürfte die Geldpolitik der EZB ein noch relevanteres Thema werden. Die dauerhaften Niedrigzinsen erzeugen zweifellos negative Nebenwirkungen, wie Preisblasen in verschiedenen Anlageklassen, Probleme bei der Bildung ausreichender Altersvorsorge für viele Sparer, ertragsschwache Finanzinstitute und den Druck für viele Anleger, immer risikoreicher anzulegen. Immer mehr Menschen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sehen in der Notenbank die alleinige Verursacherin der Niedrigzinssituation. Zuletzt kam es sogar zu einer öffentlich diskutierten Aufspaltung des EZB-Rates, dessen Mitglieder die letzten expansiven geldpolitischen Schritte nicht mehr einheitlich mitgetragen haben. Dadurch erodiert zunehmend das Ansehen und der Rückhalt der EZB - zumindest in vielen nördlichen Staaten der Eurozone - und damit letztlich auch die Stabilität des Euro.

Das schwächelnde Wachstum der chinesischen Wirtschaft bremst die Weltwirtschaft und hemmt damit auch die Aussichten für Deutschland. Wie groß wird der Einfluss dieser Entwicklung im nächsten Jahr sein?
Die Wachstumsdynamik schwächt sich in 2020 voraussichtlich global weiter ab, China ist da keine Ausnahme. Einzig in der Eurozone dürfte das BIP-Wachstum leicht zulegen. Der ausschließliche Blick auf das Wachstum in China greift aber zu kurz. China hat sich in den letzten 30 Jahren von einer bäuerlich geprägten Volkswirtschaft zu einem führenden Industriestandort entwickelt. In dieser Zeit hat sich das Bruttoinlandsprodukt Chinas um den Faktor 32 vervielfacht und der Wohlstand ist parallel enorm angestiegen. Aufgrund der gestiegenen Löhne kann China künftig nicht mehr die billige Werkbank der Welt sein, sondern entwickelt sich weiter zu einer führenden Technologienation und in absehbarer Zeit zur größten Volkswirtschaft der Welt. Mit steigendem Wohlstandsniveau nehmen Wachstumsraten sukzessive ab - ein ganz normaler Effekt. Aufgrund des Anteils Chinas am kaufkraftbereinigten globalen BIP in Höhe von heute schon etwa 20 Prozent haben jedoch selbst die niedrigeren Wachstumsraten einen entscheidenden Effekt für die globale Konjunktur. In den kommenden Monaten ist von Wachstumsraten nahe 6 Prozent auszugehen. Die Dynamik der chinesischen Volkswirtschaft schwächt sich also im Rahmen des Transformationsprozesses ab. Ein deutliches Einbrechen des Wachstums - eine sogenannte "harte Landung" - ist jedoch nicht zu erwarten.

Mit Christine Lagarde steht die Europäische Zentralbank (EZB) seit November 2019 unter neuer Führung. Ihr Vorgänger Mario Draghi hat im EZB-Rat einigen Gesprächsbedarf zurückgelassen. So sind die Ratsmitglieder im Hinblick auf die erneute Aufnahme des Anleihenkaufprogramms und dem Leitzins auf Rekordtief gespaltener Meinung. Einige fordern einen Kurswechsel der EZB. Wo sehen Sie die EZB Ende 2020?
Der fehlende interne und öffentliche Rückhalt für die EZB-Entscheidungen ist für Christine Lagarde nicht hinnehmbar. Sie kann daher den bisherigen geldpolitischen Kurs ihres Vorgängers Mario Draghi nicht einfach weiterführen - zumal die letzte Zinssenkung und die Wiederaufnahme der Wertpapierkäufe weder die Kreditvergabe noch die Konjunktur angekurbelt haben. Sie kann aber aufgrund der schwachen Wachstumsdynamik und wegen des ohnehin kaum vorhandenen Inflationsdrucks in der Eurozone auch nicht auf einen restriktiven geldpolitischen Kurs umschwenken. Mit steigenden Leitzinsen entstünde zudem die Gefahr, dass die Kurse von Anleihen, Aktien und Immobilien gleichzeitig kollabieren sowie Unternehmensanleihen und -kredite vermehrt ausfallen würden. Die Konjunktur würde noch viel stärker belastet werden.

Wird die EZB an ihrem geldpolitischen Lockerungskurs 2020 festhalten?
Sowohl die Leit- als auch die Einlagenzinsen der EZB dürften bis Ende 2020 unverändert bleiben. Auf jedem Fall aber wird Lagarde deutlich präsenter in der Öffentlichkeit auftreten und offensiv für die Anliegen und die Ausrichtung der EZB-Geldpolitik werben, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Auch dürfte sie das angestrebte Inflationsziel von 2 Prozent infrage stellen und den Druck auf die Fiskalpolitik erhöhen, um die Wirtschaftsdynamik in der Eurozone durch Strukturreformen und staatliche Ausgaben zu steigern. Nur im Fall einer drohenden Rezession in der Eurozone oder bei größeren Turbulenzen an den Kapitalmärkten, wären erweiterte Wertpapierkäufe inkl. Aktien oder im Notfall auch direkte Kapitaltransfers an Staaten, Unternehmen oder Private denkbar (Helikoptergeld).

Das Jahr 2019 stand ganz im Zeichen von Niedrigzins. Mittlerweile sind nicht mehr ausschließlich Banken von Strafzinsen betroffen, sondern auch Privatanleger müssen teils ab dem ersten Cent zahlen. Auch von Krediten mit Negativzinsen ist inzwischen die Rede. Rechnen Sie mit flächendeckender Verbreitung von Negativzinsen für Privatkunden?
Je länger die Phase niedriger Inflation und damit niedriger beziehungsweise negativer Zinsen anhält, umso stärker werden diese auch an private Anleger durchgereicht. Nullzinsen für Private werden heute von Banken quersubventioniert, bedeuten also negative Erträge für die Finanzbranche. Das können die ohnehin nicht auf Rosen gebetteten europäischen Banken nicht ewig aushalten und sind daher gezwungen, die Marktkonditionen an jeden Kunden weiterzureichen. Da ein Ende der strukturellen Niedrigzinsen derzeit nicht absehbar ist, werden Negativzinsen für Privatkunden somit vorerst zur Normalität - wenngleich es sicherlich immer Freibeträge geben wird.

Die USA befinden sich im längsten Aufschwung ihrer Geschichte. Doch es gibt auch Hemmschuhe, weiß Ulrich Stephan von der Deutschen Bank. Politische Unsicherheiten und Diskussionen über die Regulierung amerikanischer Großindustrien wie beispielsweise Finanzen, Pharma, Energie und Tech im Vorfeld der Präsidentschafts- und Kongresswahlen im November 2020 könnten das Wachstum hemmen. Wie schätzen Sie das Wachstum der USA für das nächste Jahr ein?
In den USA wird das BIP-Wachstum in 2020 voraussichtlich unter die Marke von 2 Prozent fallen. Hintergrund sind die auslaufenden stimulierenden Effekte der letzten Steuerreform, die negativen Auswirkungen der Handelskonflikte mit steigenden Preisen und sinkender Nachfrage für bestimmte Güter sowie die global nachlassende Wirtschaftsdynamik. Einen deutlichen Abbruch des US-Wachstums wird vor allem der nach wie vor sehr robuste und für die US-Volkswirtschaft sehr wichtige Inlandskonsum aber verhindern. Der nahezu voll ausgelastete Arbeitsmarkt sorgt für steigende Löhne und damit für einen zunehmenden privaten Konsum.

Im November des nächsten Jahres wird in den USA wieder gewählt. Inwieweit werden sich der Wahlkampf und die Wahl voraussichtlich auf die Börsen auswirken?
Der US-Präsidentschaftswahlkampf dürfte in den USA und mit Abstrichen wohl auch global einer der maßgeblichsten Einflussfaktoren für die Börsen in 2020 sein.

Im speziellen Donald Trump: Schon in der Vergangenheit wurde der Einfluss des US-Präsidenten auf die Börsen deutlich. Für eine Wiederwahl dürfte der Präsident alle Register ziehen. Wie könnte sich das auf die Börsen auswirken?
Wie kaum jemals zuvor wirkt sich schon heute fast jede Äußerung Donald Trumps unmittelbar auf die Kurse aus. Für Trump dürften im nächsten Jahr zwei Seismografen besonders ausschlaggebend sein: die jeweils aktuellen Umfragewerte sowie der Stand des wichtigsten US-Aktienindex S&P 500. Deutlich fallende Aktienkurse würden die Chancen für seine Wiederwahl wohl erheblich senken. Wann immer hier negative Tendenzen drohen, wird er mit allen Mitteln versuchen, die Stimmungslage wieder zu drehen. Das macht einerseits das Wirken des US-Präsidenten wohl noch unberechenbarer - vor allem bzgl. internationaler Themenfelder, wie der Handelskonflikte. Andererseits besteht dadurch ein wesentlicher Risikopuffer für die Aktienmärkte. Im Zweifel könnte Trump bspw. die nächste Steuerreform, diesmal zur Entlastung kleinerer und mittlerer Einkommen, uns Spiel bringen und so den Konsum, die Wirtschaft sowie die Aktienkurse unterstützen.

Strategen blicken dem neuen Börsenjahr teils nicht sehr optimistisch entgegen. In welchen Branchen sehen Sie die größten Chancen und warum?
Generell sind viele positive Entwicklungsmöglichkeiten wohl schon in diesem Jahr in die Notierungen eingeflossen und haben für die überraschend deutlichen Aktienkursgewinne gesorgt. Der konjunkturelle Abschwung schlägt sich hingegen kaum in den derzeitigen Aktienkursen nieder. Eingepreist sind offensichtlich keine weiteren Eskalationen im Handelskonflikt und kein ungeregelter Brexit, dafür aber weiterhin expansive Geldpolitik. Für erneut deutliche Kurssteigerungen braucht es daher neue positive Impulse, die derzeit jedoch noch nicht erkennbar sind. Ein aktives Management könnte daher im kommenden Jahr gegenüber einer passiven Indexanlage im Vorteil sein. Bei der Auswahl der Aktien sollten Anleger sich allerdings weniger auf klassische Branchenzuordnungen fokussieren. Einerseits stehen alle Branchen und nahezu jedes Unternehmen vor enormen Herausforderungen angesichts einer Fülle von substantiellen Veränderungen im Zuge der Digitalisierung, des demografischen und des Klimawandels.
Daraus resultieren erhebliche Veränderungen für bestehende Geschäftsmodelle. Wer diese Transformationsphase am besten durchläuft lässt sich weniger auf Branchen- als vielmehr auf Ebene jedes einzelnen Unternehmens ermitteln. Einige Unternehmen werden existenzielle Krisen erleben, während andere bestehende Chancen konsequent und erfolgreich nutzen können. Am besten aufgestellt sind Unternehmen, die aktiv an der Gestaltung der Zukunft mitarbeiten. Diese sogenannten "Zukunftbeweger" helfen beim Sparen von Ressourcen, realisieren effiziente Produktionsprozesse, verringern negative Umwelteinflüsse, achten auf faire Handelsusancen und Arbeitsbedingungen in der gesamten Wertschöpfungskette etc. Sie haben nicht nur die Interessen der Kapitalgeber im Blick, sondern nehmen auch auf Angestellte, Zulieferer und alle weiteren mit Ihnen in Kontakt stehenden Interessengruppen Rücksicht. Andererseits verschwimmen durch neue technologische Errungenschaften zunehmende klassische Branchenunterscheidungen. Bspw. entwickeln sich Autobauer zu Anbietern von Mobilitätskonzepten und legen einen Schwerpunkt auf die Entwicklung von Software und Künstlicher Intelligenz zur Realisierung autonomen Fahrens. Maschinenbauer können durch Ausnutzung der durch Maschinen generierten Daten Beratungsansätze entwickeln etc.

Sowohl der Export wie auch die Industrie schwächeln. Die Konsumnachfrage ist aber nach wie vor gut. Bleibt der Konsum auch 2020 die Stütze der deutschen Konjunktur?
Das ist nicht sicher. Entscheidend ist die Frage, wie lange die Industrierezession noch anhält. In 2019 haben der ausgelastete Arbeitsmarkt, steigende Löhne und auch die niedrigen Zinsen den Konsum angekurbelt. Kurzfristig stützt das Weihnachtsgeschäft zusätzlich. Den letzten Umfragen des GfK-Konsumklimaindex war aber auch zu entnehmen, dass sich Verbraucher zunehmend um Kurzarbeit oder gar Entlassungen sorgen. Die entsprechenden Nachrichten aus der Automobil- und der Windenergiebranche zeigen Wirkung. Auch wirkt sich die Schwäche der Industrie zunehmend auf andere Sektoren, etwa die Dienstleistungen und den Handel, negativ aus. Je länger die Industrierezession anhält, umso deutlicher wird auch die Konsumdynamik nachlassen.

Könnte die deutsche Wirtschaft 2020 in eine Rezession abgleiten?
Die Möglichkeit einer Rezession besteht. Es gibt strukturelle Effekte, die in 2020 für eine steigende Wirtschaftsleistung sorgen, etwa mehr Arbeitstage als in 2019. Allerdings ist die Gefahr einer negativen Spirale aus globalem Konjunkturabschwung, Handelskonflikten, Investitionszurückhaltung, Rückgang des globalen Handels, Industrierezession, Rückwirkungen auf den Arbeitsmarkt und am Ende nachgebendem Konsum nicht auszuschließen.

Was ist Ihre Einschätzung? Stehen die Börsen im nächsten Jahr vor einem Boom oder vor einem Crash?
Weder noch, das wahrscheinlichste Szenario ist ein moderates Wachstum mit weiter niedrigen Zinsen und tendenziell weiter steigenden Aktien- und Immobilienpreisen.

Wo steht der DAX zum Jahresende?
Mindestens 14.000 Punkte

Ihr persönlicher Anlagetipp: Worauf würden Sie 2020 setzen?
Nicht nur in 2020, sondern generell in den kommenden Jahren würde ich auf Aktien von ESG-konformen Unternehmen setzen. Die Einhaltung von höchsten Standards bzgl. der Aspekte Umweltschutz, Soziales und Unternehmensführung wird künftig immer mehr zu einem eigenen Entscheidungskriterium für Anleger werden. Anlegern ist an der zukunftsorientierten und positiven Wirkung ihrer Kapitalanlage gelegen. Unternehmen, die sich diesen Standards verpflichten, haben zudem ein deutlich geringeres Reputations-, Prozess- und damit Schadenersatzrisiko. Andererseits werden Unternehmen, die nicht ESG-konform agieren in Zukunft höhere Refinanzierungskosten zu tragen haben.