Herr Mumm, welcher der Kandidaten wird die Wahl für sich entscheiden?
Carsten Mumm: Derzeit sieht es gemäß Umfragen, Wettbüro-Statistiken, Experten-Vorhersagen und Modellrechnungen nach einem Wahlsieg für Joe Biden aus. Die Diskussionen um die Nachfolge der kürzlich verstorbenen Ruth Bader Ginsburg als Mitglied des Obersten Gerichtshofes kommen auch eher dem demokratischen Herausforderer zugute. Allerdings ist der Wahlausgang deswegen noch lange nicht entschieden. Gerade Donald Trump ist zuzutrauen, in kurzer Zeit auch noch einmal deutlich aufzuholen, vor allem in den besonders relevanten Swing-States. Eine Grundvoraussetzung dafür wäre eine weiter positive Entwicklung an den Aktienmärkten, Fortschritte im Zuge der konjunkturellen Erholung und ein sich weiter stabilisierender Arbeitsmarkt. Wenn auch kein deutlicher Sieg Trumps wahrscheinlich ist, ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit offenem Ausgang und gegebenenfalls juristischen Auseinandersetzungen zur Ermittlung des Siegers möglich.

Welche Auswirkungen hätte das auf die US-Wirtschaft?
Die US-Wirtschaft wird derzeit vor allem von der Erholung infolge der Corona-Rezession, der ultra-expansiven Geldpolitik und den fiskalischen Unterstützungsmaßnahmen geprägt. Daher spielt der Wahlausgang für die konjunkturellen Perspektiven derzeit keine überragende Rolle. Sollten die Demokraten gewinnen und sich auch die Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses sichern, wären allerdings umfangreichere staatliche Investitionsprogramme als unter einer Präsidentschaft Trumps zu erwarten. Dabei ginge es einerseits um ein weiteres Konjunkturpaket, andererseits um massive Investitionen in die Infrastruktur, die Energiewende und das Gesundheitssystem. Die geplanten Steuererhöhungen und die Erhöhung des Mindestlohns dürften nur in kleinerem Umfang die Konjunktur belasten. Sollten die Republikaner die Mehrheit im Senat verteidigen, hätte ein neuer Präsident Biden erheblich geringeren Budgetspielraum für konjunkturstimulierende Maßnahmen.

Wie würde die Wall Street auf einen solchen Wahlausgang reagieren?
Aus Sicht der Kapitalmärkte halten sich mittelfristig positive und negative Auswirkungen die Waage. Eine erste Reaktion auf einen demokratischen Sieg wäre vermutlich kurzfristig negativ, allein schon weil eine Rücknahme der für die Unternehmensgewinne extrem positiven Steuersenkungen der Trump-Ära erwartet wird. Außerdem wäre in Bereichen wie der Finanz- und Energiebranche sowie bei den großen Digitalunternehmen mit einem erhöhten Regulierungsdruck zu rechnen. Wesentliche Treiber der Aktienmärkte wie die anhaltend niedrigen Zinsen, die Wertpapierkaufprogramme der US-Notenbank Fed und die gute Aufstellung vieler US-Unternehmen im Zuge der technologischen und digitalen Revolution bleiben jedoch erhalten. Hinzu kommen erhöhte staatliche Investitionen in Infrastruktur, neue Energien und das Gesundheitswesen sowie Maßnahmen zur Unterstützung des privaten Konsums. Insofern könnte es teilweise zu einem Favoritenwechsel unter den Branchen am Aktienmarkt kommen.

Welche Chancen sehen Sie in der neuen Präsidentschaftsperiode für den Handelsstreit zwischen den USA und China?
Auch Joe Biden steht für eine protektionistische Außenhandels- und Wirtschaftspolitik getreu dem Motto "Buy American". Wie Trump wird er versuchen, die USA im Wettlauf um die wirtschaftliche und technologische Vormachtstellung in der Welt so gut wie möglich zu positionieren. Das soll durch Schwächung der chinesischen Volkswirtschaft oder zumindest mit der Zielsetzung eines aus Sicht der USA faireren Wettbewerbs zwischen beiden Staaten erreicht werden. Die Rivalität der beiden Großmächte wird so oder so noch Jahre andauern. Es ist allerdings davon auszugehen, dass ein US-Präsident Biden gegenüber Europa und anderen nahestehenden Staaten einen moderateren Kurs fahren wird. Gegebenenfalls wird er versuchen, in Allianzen und unter Einbeziehung internationaler Organisationen gemeinsam eine bessere Position gegenüber China zu erreichen. Die transatlantischen Beziehungen könnten so wieder kooperativer gestaltet werden.

Wie dürfte sich die Corona-Politik weiterentwickeln?
Die möglichst schnelle Eindämmung der Corona-Pandemie in den USA dürfte eines der kurzfristig wichtigsten Kernthemen Bidens sein. Angesichts der aktuell steigenden Infektionszahlen und der hohen Unzufriedenheit der US-Bevölkerung mit der Corona-Strategie Trumps kann Biden in diesem Thema schnelle Erfolge erreichen. Dafür wird er der Wissenschaft mehr Gehör schenken und sich von Empfehlungen leiten lassen. Konkret ist in Zusammenarbeit mit den Bundesstaaten mit weitreichenden Empfehlungen oder Verordnungen zum Tragen von Masken zu rechnen. Zudem plant Biden die Wiedereinsetzung des von Trump beendeten Gremiums zur Bekämpfung von Pandemien im Weißen Haus. Außerdem wird er die Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation suchen, die Forschung nach und die Produktion von Impfstoffen unterstützen und Testkapazitäten ausbauen.

Vor einigen Wochen wurde ein leichter Rückgang der Arbeitslosenzahlen verzeichnet. Zuletzt mussten sich jedoch wieder mehr US-Amerikaner arbeitslos melden. Wie dürfte sich die Lage unter dem künftigen Präsidenten entwickeln?
Der Jobaufbau nach der Corona-Rezession wird durch einige strukturelle Faktoren verlangsamt. Einerseits bleibt der private Konsum vorerst verhalten und solange weitere Einkommens- und Jobverluste befürchtet werden müssen, wird der Konsum das Vorkrisenniveau nicht wieder erreichen. Zudem ist davon auszugehen, dass die Krise die Automatisierung beschleunigt hat und damit Arbeitskräfte wegfallen. Viele Unternehmen planen trotz wieder besserer Auftragslage teils einen massiven Abbau von Stellen. Die von Biden geplante Erhöhung des Mindestlohns wird diesen Trend eher verstärken. Andererseits wird eine Umfokussierung der US-Wirtschaft auf beispielsweise erneuerbare Energien auch neue Jobmöglichkeiten schaffen.