boerse-online.de: Die EZB hat sich - etwas überraschend - nun doch zu einem großen Zinsschritt von einem halben Prozentpunkt durchgerungen. Sehen Sie das jetzt als vielversprechenden Auftakt, um das Inflationsproblem in den Griff zu bekommen?
Jörg Krämer: Es ist gut, dass sich die EZB zu einem großen Zinsschritt um einen halben Prozentpunkt durchgerungen hat. Aber das kann nur ein Anfang sein. Der Euroraum hat ein tiefgreifendes Inflationsproblem und braucht eine Serie großer Zinsschritte.
Ist damit schon das Ende der Negativzinspolitik besiegelt?
Der EZB-Einlagesatz liegt jetzt bei 0,0 Prozent. Ich glaube nicht, dass es sich die EZB mit Blick auf die hohe Inflation leisten kann, zu negativen Leitzinsen zurückzukehren.
Kommt der Schritt nicht schon zu spät angesichts der kräftig angezogenen Inflation?
Ja, der Schritt kommt zu spät. Die Inflationserwartungen der Menschen sind schon deutlich gestiegen. So erwarten die Deutschen laut einer Umfrage der Bundesbank, dass die Inflation im Durchschnitt der kommenden fünf Jahre bei fünf Prozent liegen wird, also weit über den zwei Prozent, die die EZB verspricht.
Ist die EZB mit ihrem Instrumentarium und ihrer komplexen Interessenstruktur überhaupt noch in der Lage, die Inflation einzudämmen?
Es geht nicht um Instrumente, sondern um politische Einflussnahme. Viele Mitgliedsstaaten, vor allem im Süden der Währungsunion, sind hoch verschuldet. Ihre Vertreter setzen sich im EZB-Rat für eine lockere Geldpolitik ein. Dagegen können die wenigen Falken wie Bundesbank-Präsident Nagel wenig ausrichten. Vor allem deshalb erwarte ich, dass die Inflation viele Jahre deutlich über zwei Prozent liegen wird.
Auf welches Niveau müssten die Zinsen steigen, damit die EZB die Konjunktur nicht noch zusätzlich anfacht?
Sie fragen nach dem sogenannten neutralen Zins, der die Konjunktur weder anschiebt noch bremst. Nach meiner Schätzung liegt dieser neutrale Zins bei knapp drei Prozent. Aber die EZB müsste mit ihrem Leitzins darüber hinaus gehen, weil die Inflation bereits deutlich über zwei Prozent liegt.
Und was müsste Sie tun, wenn sich die Konjunktur im Jahresverlauf weiter eintrübt und möglicherweise sogar in eine Rezession mündet?
Sie müsste Kurs halten und unbeirrt die Inflation bekämpfen. Das verlangt auch das Mandat der EZB. Aber tatsächlich hat die EZB in der Vergangenheit immer sehr sensibel auf gestiegene Konjunkturrisiken reagiert. Im Falle einer Rezession würde sie den Zinserhöhungsprozess wohl rasch absagen.
Wie groß schätzen Sie das Risiko ein, dass hochverschuldete Länder wie Italien durch größere Zinsschritte in die Bredouille kommen könnten?
Klar, Italien verweigert sich durchgreifenden Reformen und ist zu hoch verschuldet. Aber die EZB darf aus Angst vor steigenden Anleiherenditen Italiens nicht auf die notwendigen Zinserhöhungen verzichten. Sonst bekommen wir ein dauerhaftes Inflationsproblem, das die politische Stabilität der Währungsunion bedrohen könnte.