Ähnlich hoch war die Teuerungsrate zuletzt im Winter 1973/1974, als Kraftstoffe wegen der ersten Ölkrise stark gestiegen waren. Entspannung ist kaum in Sicht. "Die Lebensmittelpreise werden meines Erachtens noch weiter ansteigen", sagte Bauernpräsident Joachim Rukwied. Denn in Zeiten der Getreidekrise in der Ukraine erhöhten etwa deutsche Erzeuger ihre Preise für landwirtschaftliche Produkte im April im Schnitt um fast 40 Prozent - der höchste Preisanstieg seit Beginn der Erhebung 1961.

Erst die Lieferkettenengpässe durch die Corona-Krise und nun vor allem der Ukraine-Krieg mit den Sanktionen des Westens gegen Russland sorgen für steigende Preise bei Energie, Rohstoffen und Lebensmitteln. Dies wiederum belastet Firmen und Verbraucher und bremst die Konjunktur. Im April lag die deutsche Inflation noch bei 7,4 Prozent. Die Europäische Zentralbank (EZB) hält für den Euro-Raum rund zwei Prozent für ideal. Wegen des Preisschubs will die EZB im Juli erstmals seit elf Jahren die Zinsen erhöhen. Verdi-Chef Frank Werneke kündigte Lohnforderungen mindestens in Höhe der Inflationsrate an. Tariferhöhungen um sieben Prozent binnen eines Jahres seien herausfordernd - "aber der volle Lohnausgleich ist unser Ziel", sagte er der "Zeit".

"INFLATION IST ECHTE GEFAHR"


Ökonomen befürchten eine Lohn-Preis-Spirale, wenn sich bei hoher Inflation Löhne und Preise gegenseitig hochschaukeln. Werneke äußerte sich zudem skeptisch zu der von Bundeskanzler Olaf Scholz vorgeschlagenen "konzertierten Aktion" zwischen Tarifparteien und Regierung, um gemeinsame steigende Preise zu bekämpfen. Staatlichen Entlastungspakete könnten nur eine Überbrückungshilfe bis zur nächsten Tarifrunde sein, betonte Werneke. "Dauerhaft steigende Preise müssen aber durch dauerhaft steigende Löhne ausgeglichen werden."

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) nannte die hohe Inflation erneut ein ernstes Warnsignal. "Die Teuerung ist eine echte Gefahr", twitterte er: "Was wir also dringlich tun müssen: Druck von den Preisen nehmen, Menschen gezielt entlasten - und so schnell wie möglich zur Schuldenbremse zurückkehren."

Hauptursache für die enorme Inflation sei nach wie vor die teure Energie, sagte Statistikamt-Präsident Georg Thiel. "Aber wir beobachten auch Preisanstiege bei vielen anderen Gütern, besonders bei den Nahrungsmitteln." Energie kostete im Mai 38,3 Prozent mehr, Kraftstoffe 41 und leichtes Heizöl 95 Prozent. Nahrungsmittel verteuerten sich um 11,1 Prozent und damit so stark wie nie seit der Wiedervereinigung. Erheblich mehr kosteten Speisefette und Speiseöle (+38,7 Prozent). Auch Fleisch und Wurst (+16,5 Prozent), Eier und Molkereiprodukte (+13,1 Prozent) sowie Brot und Getreideerzeugnisse (+10,8 Prozent) wurden teurer. Ohne Energie und Nahrungsmittel lag die Inflation nur bei 3,8 Prozent.

Mit dem Lieferausfall aus der Ukraine und den Sanktionen gegen Russland seien die Getreidepreise massiv gestiegen, sagte Ökonom Sebastian Dullien vom gewerkschaftsnahen IMK-Institut. "Das schlägt sich nun in höheren Preisen für Produkte wie Mehl, Nudeln, aber auch Eiern und Fleisch nieder, da ein beträchtlicher Teil des Getreides aus der Ukraine und Russland als Futtermittel genutzt wurde."

BAUERN IM BLINDFLUG


Auch die Preise bei den Erzeugern landwirtschaftlicher Produkte verteuern sich spürbar und signalisieren anhaltend hohe Lebensmittelpreise. So ging es bei pflanzlichen Produkten im April um 45,7 Prozent nach oben und bei tierischen Erzeugnissen um 35,8 Prozent. "Wir brauchen höhere Preise, um überhaupt weiter produzieren zu können", sagte Bauernpräsident Rukwied im Deutschlandfunk. Düngemittelkosten hätten sich zum Vorjahr vervierfacht, Futter sei doppelt so teuer, die Energiekosten seien explodiert. "Wir befinden uns in einer Art Blindflug - wir können nicht wirklich kalkulieren."

Auch Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) erwartet weiter anziehende Lebensmittelpreise. "Wir müssen im Herbst und Winter mit Steigerungen rechnen, weil sich der Handel jetzt mit teurer Energie versorgen muss und die Preissteigerungen an die Kunden weitergereicht werden", sagte er der "Rheinischen Post". "Vieles kommt leider erst noch."

rtr