Der lang erwartete Börsengang ist vollzogen: Mitte Oktober konnten Anleger erstmals Aktien von Knorr-Bremse handeln. Der Ausgabepreis von 80 Euro je Stück erfüllte zwar nicht ganz die Erwartungen, dennoch sprechen Marktteilnehmer von einem gelungenen Börsendebüt des Herstellers von Lkw- und Zugbremsen. Nach dem IPO von Siemens Healthineers ist es der zweitgrößte in diesem Jahr.

Knorr-Bremse hatte bereits im vergangenen Jahr die Deutsche Bank, JP Morgan und Morgan Stanley mit der Durchführung des Börsengangs beauftragt. In einem Interview kündigte der 77-jährige Eigentümer Heinz Herrmann Thiele bereits an, er "habe nicht die Absicht, sich in den Schaukelstuhl zu setzen", und so wird er sich wohl auch weiterhin einmischen, wenn es um die Strategie des Unternehmens geht. So wie er das bisher immer getan hat. Denn wirklich aufhören können wird der ewige Kämpfer nicht: "Ich bin Unternehmer und werde bis zum letzten Atemzug unternehmerisch tätig sein …"

Thiele wurde im Kriegsjahr 1941 geboren. Die bitteren Erlebnisse seiner Kindheit, der Hunger und die Not, haben ihn geprägt: Er ist ein Flüchtlingskind, und diese Erfahrung hat ihn hart gemacht. Er gehöre einer Generation an, die noch erlebt habe, wie es ist, nichts zu besitzen, pflegt er zu sagen. Zwar stammten seine Eltern aus einem wohlhabenden Haus, beide Großväter waren erfolgreiche Unternehmer. Aber im Krieg hatte die Familie alles verloren. Während sein Vater in Kriegsgefangenschaft war, musste seine Mutter mit den Kindern vor den Sowjettruppen fliehen. Die Familie baute sich in Westdeutschland eine neue Existenz auf.

Thiele studierte Jura. Eigentlich wäre er lieber Ingenieur geworden. Aber der Vater wollte, dass der Junior später seine Anwaltskanzlei weiterführe. Er finanzierte das Studium größtenteils selbst, indem er nebenbei noch arbeitete. Er wohnte in einem Zimmer ohne Zentralheizung und fuhr mit dem Fahrrad in die Universität. 1969, kurz nach seinem zweiten Staatsexamen, heuerte er als juristischer Sachbearbeiter in der Patentabteilung von Knorr in München an.

Bereits drei Jahre später übernahm er die Leitung des neu geschaffenen Bereichs Recht und Patente, stieg schnell die Karriereleiter hinauf. "Ich entdeckte meine Unternehmergene und wechselte in den Marktbereich, wurde Chef des Nutzfahrzeugbereichs und schließlich der Vertriebsvorstand für das Gesamtgeschäft der Knorr-Bremse. Diese Tätigkeit hat mir sehr gelegen, weil ich dort gestalten konnte: mir Ziele setzen, die Wege dorthin formulieren, das dann auch operativ umsetzen und dabei Widerstände überwinden", so Thiele in einem Interview.

Seinen spektakulären Aufstieg in der Knorr-Hierarchie verdankt Thiele auch einem prominenten Aussteiger. Jens-Diether von Bandemer, der tiefreligiöse Hauptgesellschafter der Familienholding Knorr-Bremse KG und Mitglied der umstrittenen Gemeinschaft zur Förderung des Heimholungswerks Jesu Christi, kündigte Mitte der 80er-Jahre plötzlich seinen Ausstieg aus der "Sinnlosigkeit materiellen Denkens" und der Welt des kapitalistischen Gewinnstrebens an.

Bandemer verkaufte 1985 sein Unternehmen nicht an einen der vielen Interessenten, sondern übertrug seinen 71-Prozent-Anteil an der Holding auf Heinz Hermann Thiele, der bisher schon als alleiniger Komplementär über sieben Prozent verfügte. Thiele war jetzt Herr im Haus, Chef von 3500 Mitarbeitern.

Aber die Zukunft der Firma war völlig offen, niemand wusste damals, ob Knorr noch saniert werden könnte.

Die Erfolgsgeschichte



Natürlich hatte Thiele Angst vorm Scheitern, schließlich besaß er damals "nichts außer einem nicht abbezahlten Haus". Aber Alfred Herrhausen, damals Vorstandssprecher der Deutschen Bank, sicherte ihm per Handschlag finanzielle Unterstützung zu. Sicherheiten brauche man nicht. Sukzessive erwarb Thiele später die restlichen Anteile an der Firma, 1989 gehörte sie ihm komplett.

"Ich bin voll ins Risiko gegangen", sagt der Selfmademan heute. "Das Unternehmen war marode. Mir war klar, dass ich viel tun musste, um einen erfolgreichen Konzern daraus zu machen". Er wandelte Knorr in eine Aktiengesellschaft um, schaffte die Wende und konzentrierte das Unternehmen auf die Kernkompetenzen Bremssysteme für Schienen- und Nutzfahrzeuge. In den ersten zehn Jahren gab es keine Dividende, schließlich musste die Sanierung finanziert werden.

Und während sich der deutsche Mittelstand aus dem Geschäft mit Zügen und Eisenbahnen verabschiedete, stieg Knorr-Bremse zu einem führenden Systemlieferanten auf. Der Unternehmer erkannte frühzeitig den Zwang zur Globalisierung. Bereits zu Beginn der 80er-Jahre knüpfte er wichtige Kontakte in Nord- und Südamerika, aber auch in den aufstrebenden Märkten wie Japan, Russland, Indien und China und gründete dort eigene Gesellschaften.

Heute ist Knorr-Bremse ein Global Player mit 60 Standorten in 25 Ländern. Das Unternehmen hat weltweit fast 27 000 Mitarbeiter. Thieles Bilanz ist beeindruckend: "Zwischen 1985 und 2015 hat sich der Umsatz verdreißigfacht, das Ergebnis vor Zinsen und Steuern ist um 20 000 Prozent gestiegen", rechnet er vor.

Was er von sich selbst verlangt, nämlich ständig Höchstleistungen zu bringen, erwartet er auch von seinen Mitarbeitern. Er ist bekannt als "harter Hund", er gilt als unerbittlich, aufbrausend, eigensinnig und misstrauisch, "zupackend wie Bremsbacken und selbstbewusst bis zum Platzen" ("Wirtschaftswoche"). Es sei richtig, dass er sehr konsequent, manchmal vielleicht auch zu hart gegenüber seinen Leuten sei, gibt Thiele zu. "Aber ich bin auch hart mir selbst gegenüber." Seit 2016 hat Thiele offiziell keine Ämter mehr bei Knorr-Bremse und ist nur noch Ehrenvorsitzender des Aufsichtsrats.

In Zukunft hat er mehr Zeit für seine anderen Interessen. In Uruguay besitzt er eine Ranch mit 8500 Rindern und 12 500 Schafen und in Südafrika eine Plantage mit 600 Angestellten, die Avocados, Mangos und Zitrusfrüchte anbauen. Klar, auch diese Güter werfen Gewinne ab.

Thiele ist in zweiter Ehe mit der 41-jährigen Nadia verheiratet, einer Ukrainerin, die sich im Unternehmen um gemeinnützige Engagements kümmert. Der Patriarch hat zwei Kinder, denen er die Mehrheit der Anteile an der Familienholding vermacht hat. Er selbst hält die Mehrheit der Stimmrechte, so verfügt er bei der Generalversammlung über alle Befugnisse. "Ich bin die Knorr-Hauptversammlung, weil ich dort alle Stimmen vertrete", zitiert ihn das "Manager Magazin". "Das hat den Vorteil, dass in einer halben Stunde alles vorbei ist."