"Der Lippenstift-Index ist Rea­lität", sagte voller Inbrunst Fabrizio Freda, Lenker des Schönheitskonzerns Estée Lauder, bei der jüngsten Präsentation der Quartalszahlen. Lippenstift-Index? Diesen Begriff prägte einer seiner ­Vorgänger. Leonard Lauder, Sohn der Gründerin Estée Lauder und bis 2009 an der Spitze des US-Konzerns, beobachtete nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, dass sich der Absatz von Lippenstiften trotz Rezession um elf Prozent erhöhte.

Seine Erklärung: "Der Lippenstift ist ein Stück Luxus, das man sich immer leisten kann." Ökonomen zweifeln zwar die Evidenz dieses Lippenstift-Index an. Aber Freda ist überzeugt, dass Estée Lauder deshalb "weniger empfindlich auf wirtschaftlichen Abschwung" reagiert.

Tatsächlich waren die Zahlen so gut, dass An­leger trotz der nicht mehr ganz günstigen Bewertung beherzt zugriffen: Ende Februar markierte der Aktienkurs ein neues Rekordhoch. Im zweiten Quartal des laufenden Geschäftsjahrs, das im Dezember endete, stieg der Umsatz im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um sieben Prozent, währungsbereinigt um elf Prozent, und knackte erstmals die Marke von vier Milliarden Dollar. Es ist das achte Quartal in Folge, in dem Estée Lauder in einem hohen einstelligen oder niedrigen zweistelligen Bereich wächst.

Der Lippenstift-Index mag dabei sicher eine Rolle spielen. Aber dass die heutige Jugend, die Selfie-Generation, großen Wert auf Körperpflege legt, dürfte ebenfalls das Geschäft treiben. "Früher als in anderen Segmenten haben Kosmetikkunden neue Technologien wie Social Media für sich entdeckt, um sich zu informieren und um Beauty- Produkte zu kaufen", sagt Stefan Rickert, Konsumgüterexperte der Beratungsgesellschaft McKinsey.

Make-up bietet sich ganz besonders für die Selfie-Biotope Instagram, Snapchat, Twitter und andere Social-Media- Plattformen an. Wie es aufgetragen wird, zeigen Influencer in Videos auf Youtube. Laut einer McKinsey-Studie sind 2016 jeden Monat 1,5 Millionen Clips rund um die Schönheit hochgeladen worden. 4,6 Milliarden Schönheitsbeiträge haben die Nutzer monatlich angeschaut. Außerdem waren Begriffe rund um Schönheit und Kosmetik vor zwei Jahren Top-Suchkandidaten in der Suchmaschine Google.

Dass neben Estée Lauder auch die anderen großen Kosmetik- und Luxusfirmen L’Oréal, LVMH oder Beiersdorf davon profitieren, ist nicht selbstverständlich. Sie haben nämlich Konkurrenz bekommen. Kosmetik funktioniert im Internet gut, das ermöglicht es kleinen Anbietern, groß zu werden. Zwischen 2008 und 2016 wuchsen die Neuen im Schnitt mit 16 Prozent jährlich, viermal schneller als die Etablierten. Mittlerweile halten sie im global knapp 69 Milliarden US-Dollar schweren Markt einen Anteil von über zehn Prozent.

Viele der Angreifer vertreiben nur eine einzige Marke, gepaart mit ethischen Prinzipien: tierversuchsfreie Naturkosmetik etwa, zumal nachhaltig verpackt, boomt. Start-ups wie das kalifornische 100%Pure beweisen mit postenden Werbefiguren wie "Organicbunny" auf Instagram, dass sich Bioprodukte und Glamour nicht ausschließen. Auch die Geschichte der mit Smileys und Peace-Zeichen verzierten rosa-weißen Tuben von Glossier wäre ohne Social Media nicht möglich gewesen. 2014 von der Bloggerin Emily Weiss gegründet, berät Glossier über die beiden Instagram-Accounts "Glossier" und "Into the Gloss" über den richtigen Farbton fürs tägliche Make-up und hat zusammengenommen mehr als 2,5 Millionen Follower. Der Absatz legt jährlich um 600 Prozent zu.

Estée Lauder hat auf diese Entwicklung auch mit Zukäufen reagiert: 2017 nahmen die New Yorker die kanadischen Gesichtspflegespezialisten von Deciem unter das Konzerndach, im Jahr zuvor hatte Lauder die Marken Becca und Too Faced erworben. L’Oréal hat seit 2010 mehr als 1600 Digitalexperten eingestellt und Marken wie Urban Decay, NYX und IT Cosmetic zugekauft.

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Labore für Teenies

Doch am geschicktesten hat es der Luxusmischkonzern LVMH gemacht: Die Franzosen haben den internen Schönheitsinkubator Kendo ins Leben gerufen. Was dort entwickelt wird, kommt in die aktuell in den Fußgängerzonen aus dem Boden sprießenden Filialen von Sephora. Dort wird nicht nur Kosmetik verkauft. Sephora ist Experimentierlabor für hautpflegewütige Teenager - alle Produkte dürfen probiert und verschiedene Styles getestet werden. LVMH zeigt mit Sephora, dass man verstanden hat: Vor allem junge Kunden machen ihre Kaufentscheidungen nicht von der Marke abhängig.

Influencerin Nyma Tang etwa bewirbt nicht nur LVMH-Marken wie Givenchy, sondern auch die Creme La Mer von Estée Lauder. Nicht mehr die Marke entscheidet über das Luxuserlebnis, sondern subjektive Einschätzungen über Glow-Effekt, Gesundheit oder Pflegequalität. Die Belohnung: Im vergangenen Jahr ist der Umsatz im Segment Parfüm und Kosmetik von LVMH organisch um 14 Prozent gewachsen - fast genauso stark wie der Modebereich.

Ruck in Hamburg

Nivea-Produzent Beiersdorf ist weit davon entfernt, seine Cremes mit Internetstars und Erlebnisfilialen an Frau und Mann zu bringen. Zwar zählt die Hautpflegemarke Nivea zu den beliebtesten weltweit. Glamour versprüht sie aber nicht gerade. Vorstandschef Stefan de Loecker will nicht nur das ändern: Bis zu 80 Millionen Euro will der neue Konzernlenker vor allem in das Segment "Consumer" investieren, in dem neben Nivea auch Kosmetikmarken wie Eucerin, Labello oder die Luxuscreme La Prairie angesiedelt sind. 2018 wuchs der Umsatz der Sparte lediglich um 1,6 Prozent, während das Geschäft mit der Klebstoffmarke Tesa um 6,8 Prozent zulegte. Das Problem: Beiersdorf lebt zu 80 Prozent von den Umsätzen der Pflegemarken. Bis 2023, so will es de Loecker, soll das Segment wieder um vier bis sechs Prozent jährlich wachsen.

Digital haben die Hamburger im vergangenen Jahr bereits Vorstöße gewagt und etwa Piloten als Influencer für den Sonnenschutz von Eucerin angeheuert. Mit Erfolg: Die Pflegereihe mit Lichtschutzfaktor war 2018 ein starker Umsatztreiber.

Zudem sieht sich Beiersdorf nach Übernahmekandidaten um. "Wir müssen nicht alles selbst machen", sagt de Loecker. Er sehe Potenzial bei Gesichtsmasken und Lippenpflege - vor allem im naturkosmetischen Bereich. Eine gute Kombination: So könnte Beiersdorf bald nicht nur vom Trend zu Nachhaltigkeit profitieren, sondern auch vom Lippenstift-Index.

Investor-Info

L’Oréal
Hübsch gewachsen

2018 ist der französische Kosmetik­konzern mit einem Umsatzplus von mehr als sieben Prozent stärker als der Markt mit 5,5 Prozent gewachsen. Laut L’Oréal-Management soll sich das in diesem Jahr fortsetzen - dank boomender Gesichtspflege und der überproportional steigenden Nachfrage in Asien. Von einem möglichen Abkühlen des ­Luxusmarkts 2019 dürfte L’Oréal nicht so stark betroffen sein wie Konkurrent Estée Lauder. Die Aktie ist dazu attraktiver bewertet.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 270,00 Euro
Stoppkurs: 180,00 Euro

Estée Lauder
Schön überzeugt

Nach einem starken zweiten Quartal mit überproportionalem Gewinnzuwachs hat der New Yorker Kosmetikkonzern die Prognose erhöht: Das Unternehmen erwartet für das laufende Geschäftsjahr, das im Juni endet, einen bereinigten Gewinn je Aktie zwischen 4,92 und 5,00 Dollar nach zuvor 4,73 und 4,82 Dollar. Anleger haben die positiven Aussichten eingepreist, die Aktie notiert am Rekordhoch. Charttechnisch attraktiv, aber teuer.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 170,00 Euro
Stoppkurs: 129,00 Euro

Beiersdorf
Hässlich abgestraft

Anleger haben den Hamburger Pflegekonzern nach Bekanntgabe der neuen Strategie herb abgestraft: In der Spitze rauschte der Kurs elf Prozent ab, die Aktie erholt sich langsam. Schafft es Beiersdorf, die hohe Abhängigkeit vom Handel, von der Serie Nivea und vom europäischen Markt zu lindern, können Anleger in ein bis zwei Jahren auf Wachstum setzen. Die Aktie ist langfristig attraktiv.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 100,00 Euro
Stoppkurs: 79,00 Euro