Börse Online: Der Brexit-Vertrag zum EU-Austritt Großbritanniens ist im britischen Parlament durchgefallen. Premierministerin Theresa May muss sich einem Misstrauensvotum stellen. Wird sie die Abstimmung überstehen?

Jörg Krämer: Theresa May hat in der Tat eine historische Niederlage erlitten. Die für heute angesetzte Misstrauensabstimmung dürfte sie zwar überleben. Aber ihr wird es wohl nicht gelingen, der EU in Nachverhandlungen substantielle Zugeständnisse in der Irland-Frage abzuringen.

Was bedeutet das für den geplanten EU-Austritt?

Um Zeit zu gewinnen, dürften sich Großbritannien und die EU lediglich darauf einigen, den Austrittstermin gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags um drei Monate auf Ende Juni zu verschieben. Vermutlich reift in dieser Phase in Großbritannien die Einsicht, die Briten ein zweites Mal über den Brexit abstimmen zu lassen.

Ist nicht ein ungeordneter Austritt das wahrscheinlichere Szenario?

Ein ungeordneter Brexit würde zu großen wirtschaftlichen Problemen führen würde. Deshalb halte ich eine zweite Abstimmung für wahrscheinlicher. Aber es ist richtig: Der Ausgang des Brexit-Dramas ist recht unsicher.

Was bedeutet das Ergebnis für Anleger?

Die brauchen so oder so weiter gute Nerven. Die europäischen Aktienmärkte werden sich erst nachhaltig erholen, wenn beim Brexit mehr Klarheit kommt. Ebenso wichtig für eine Erholung ist aber auch, dass sich die chinesische Wirtschaft wieder fängt. Zumindest für China bin ich aber optimistischer, weil die chinesische Regierung soeben ein beträchtliches Konjunkturpaket geschnürt hat.

Und welche Lehren sollte die EU aus dem gestrigen Debakel ziehen?

Die Niederlage zeigt eben nicht nur die Uneinigkeit der britischen Politiker. Jetzt rächt sich auch, dass die EU Großbritannien abstrafen wollte, um andere potentielle Austrittskandidaten abzuschrecken. Nicht die Angst vor den Folgen eines Austritts, sondern nur die eigene Attraktivität hält die EU langfristig zusammen. Und attraktiv ist die EU, wenn sie sich darauf beschränkt, nur das zu regeln, was die einzelnen Mitgliedsstaaten selbst weniger gut regeln können. Die EU braucht eine Reform im Geiste der Subsidiarität. Leider steht das nicht auf der Tagesordnung.