Herr Halver, die Briten haben es getan und sich Umfragen zufolge offenbar tatsächlich für den Brexit entschieden. Wie schlimm wird es jetzt an den Börsen?


Es wird zu einem Gewitter kommen. Die Finanzmärkte werden sich zunächst aufgrund der politischen Verunsicherung austoben. Denn so etwas, der Austritt eines Landes aus einer Wirtschaftsunion gab es in der Neuzeit noch nicht. Es geht ja auch nicht Zypern oder Malta, sondern ein großes, geostrategisch und wirtschaftlich bedeutendes Land aus der EU.

Wird das nur ein kurzer politischer Börsendonner oder kann das heute der Beginn einer neuen Baisse sein?


Nach dem die Wunden geleckt sind, wird man eine zweite Einschätzung vornehmen. Es dauert ja bis zu zwei Jahren, bis die Briten endgültig ihre Handelsbeziehungen zur EU gekappt haben. Und in der Zwischenzeit werden die Notenbanken ein Überschwappen auf auf die Anleihemärkte zur Verhinderung einer erneuten Staatsanleihenkrise verhindern. Das wird die Aktienmärkte zwischenzeitlich beruhigen.
Auf längere Sicht wäre der Brexit jedoch ein Horrorszenario für die Finanzmärkte. Er wäre das Gift, dass langsam wirkt und an dessen Ende die Eurosklerose steht. Ist erst einmal der Bann des ersten Austritts gebrochen, könnte sich die Austreteritis ausbreiten. Man hätte mit dem Brexit ein politisches Vorbild, vielleicht sogar ein Wahlkampfmaskottchen z.B. im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2017 geschaffen. Die Frage des Frexit käme schnell auf die populistische Agenda. Und die EU und der Euroraum könnten auch in anderen Staaten als Sündenböcke für alles wirtschaftlich und sozialpolitisch Negative herhalten, die man insofern doch am liebsten verlassen sollte. Vor jeder Parlamentswahl würde die politische Unsicherheit zunehmen.
Nach einem tatsächlichen Brexit könnte eine schlechter werdende (wirtschafts-)politische EU-Stimmung Investoren und Konsumenten veranlassen, ihr Portemonnaie zuzunageln, um zunächst einmal abzuwarten. Und Abwarten ist das Schlimmste, was man einer Konjunktur antun kann. Warten fördert Deflation und damit noch weitere Zurückhaltung beim Geld ausgeben. Die EU würde als Investitionsstandort schließlich immer unattraktiver. Das internationale Kapital ist so beweglich wie junge Hunde. Auf Europa als Industriemuseum hat niemand gewartet.
Eine im wahrsten Sinne kleine EU könnte langfristig zum Spielball in der geostrategischen Welt werden. Im Extremfall werden wir zwischen den Großmächten wie USA oder China politisch zerrieben wie italienischer Parmesan in einer deutschen Käsereibe. Europa würde zum Operettenstaat.
Zur Abwendung müssen die Brüsseler Eurokraten den Schuss gehört haben. Sie müssen die Fehler der Vergangenheit lösen. Das wird eine heißer Ritt, denn diesen Mut haben sie bislang nicht unbedingt bewiesen. Eine Chance haben sie aber verdient. Ich hoffe, sie nutzen sie.
Und warum sollten dann bei beginnender Eurosklerose die europäischen Aktienmärkte ihre bislang schon gezeigte Kurszurückhaltung aufgeben?

Welche Folgen wird die Entscheidung für die britische Wirtschaft haben?


Sie haben es getan, die Briten werden die EU verlassen. Die Finanzmärkte bewerten diese Entscheidung in ihrer einzigartig nüchternen und kalten Art: Sie brechen ein. Der Aktienkurs eines Landes ist seine Währung. Das britische Pfund ist so schwach wie seit den 80er-Jahren nicht mehr. Wirtschaftlich wird es den Briten in der nächsten Zeit nicht gut gehen, nein, es wird ihnen dreckig gehen. Denn die Handelsbeziehung zum größten Binnenmarkt der Welt, der EU, werden in den nächsten zwei Jahren gekappt werden. Export und Import werden schon aufgrund unklarer handelsrechtlicher Bedingungen leiden. Niemand kann behaupten, dass das in der britischen Volkswirtschaft spurlos vorübergeht. Die Kampagnenführer der Brexit-Bewegung werden noch verflucht werden.
Und natürlich wird auch London als das vielleicht bedeutendste Finanzzentrum der Welt leiden, dass seit Jahrhunderten den Handel zwischen Europa und der Welt finanziert hat. Sogar der Euro wird mehrheitlich in London gehandelt. Ja, trotz aller Anstrengungen von Paris, Frankfurt und Dublin ist London das zentrale Tor der Welt zum Binnenmarkt. Jetzt, nach dem Brexit wird sich das ändern.
Der Brexit wird London zwar nicht kastrieren, aber deutlich an Kraft kosten. Londons Potenz liegt insbesondere in der Nutzung des sogenannte Passporting, das den Zugang zum EU-Binnenmarkt für Finanzgeschäfte regelt. Dieses von der EU eingeführte System sieht vor, dass jede Bank, die in einem EU-Land registriert ist, in der gesamten EU Finanzgeschäfte anbieten darf. Banken müssen also nicht in jedem EU-Land eine Lizenz beantragen. Genau diese Vereinfachung nutzen in Großbritannien weit über 1.000 Niederlassungen ausländischer Banken, Versicherungen, Broker, Investmenthäuser, Private-Equity-Gesellschaften und Hedge-Fonds. Der Finanzplatz London ist gerade deshalb für amerikanische und asiatische Banken so attraktiv. Mehr als ein Drittel des europäischen Großkundengeschäfts wird über Großbritannien abgewickelt. Da der Zugang zum EU-Finanz-Binnenmarkt an die Mitgliedschaft in der EU könnten sich die Finanzindustrie gezwungen sehen, nach Dublin, Luxemburg oder Frankfurt auszuweichen. Der Hort der Londoner Beschäftigungs-Glückseligkeit würde sich eintrüben. Es ist mehr als fraglich, ob eine angestrebte Wieder-deregulierung der Finanzmärkte hier Abhilfe schaffen kann. Denn innerhalb der EU würden die Regulierung auch nach einem Brexit weiter gelten.
Die EU wird jetzt den Teufel tun und den Briten entgegenkommen, ihnen einen Deal anbieten, der sie wirtschaftlich nah am jetzigen Zustand hält. Das wäre eine Einladung an andere EU-Länder ebenfalls auszusteigen und dann auch noch belohnt zu werden.
Zudem dürften die Schotten, die gerne in der EU geblieben wären, mittelfristig ein erneutes Referendum über die Abspaltung von Großbritannien einleiten, das dann erfolgreich verlaufen könnte. Aus Great würde Little Britain, ein Land mit noch weniger politischer Bedeutung.

Auf Seite 2: Welche Auswirkungen hat der Brexit auf die deutsche Wirtschaft?





Welche Auswirkungen erwarten Sie für die Konjunktur in Deutschland? Droht uns jetzt der Rückfall in eine Rezession?


Eine Rezession sehe ich nicht. Aber es wird Einbußen geben, weil viele Export/Importfirmen verunsichert sind, auch weil die handelsrechtlichen Bedingungen unklar sind. Und Großbritannien wird zukünftig auch weniger Kaufkraft haben, um bei uns wie gewohnt einzukaufen.

Welche Branchen dürften nun besonders betroffen sein?


Das sind die typischen Exportbranchen: Elektro, Maschinenbau, Auto, Chemie.

Der Brexit erschüttert auch die EU in ihren Grundfesten. Wie gefährlich ist der Brexit für den Bestand der Europäischen Union?


Die EU ist jetzt politisch angeschlagen. Ich spreche von Eurosklerose. Der Zusammenhalt ist gefährdet. Wenn je irgendwann Mut in der EU und bei seinen Politikern gefragt war, dann jetzt. In den einzelnen EU-Ländern werden jetzt die populistischen Parteien versuchen, aus dem Brexit Kapital zu schlagen. Es ist so was von wichtig, dass die Arbeitslosigkeit in Ländern wie Spanien oder Portugal, aber auch Frankreich sinkt. Denn wer arbeitslos ist, wird sich für die europäische Idee nicht erwärmen können.

Der Goldpreis hat heute morgen bereits deutlich zugelegt. Steht das Edelmetall jetzt vor einer weiteren Rallye?


Gold wird jetzt zunächst profitieren. Aber einen Durchmarsch werden die Notenbanken an den derivaten Märkten verhindern. Denn ein allzu starker Goldpreisanstieg wird jedem EU-Bürger vor Augen führen, dass etwas nicht stimmt. Es werden schlafende Hund geweckt. Aber dennoch Gold bleibt zur Absicherung auch europäischer Risiken interessant.