Herr Halver, die Börsen sind weltweit lange Zeit im schönsten Goldlöckchen-Szenario nach oben gestürmt, inklusive robuster Wachstumsraten, steigender Firmengewinne und Zinsen auf historischen Tiefständen. Doch jetzt kracht es richtig. Alleine am Montag hat der Dow binnen 15 Minuten und unter hohen Umsätzen im Handelsverlauf in der Spitze bis zu 1600 Punkte abgegeben. Sind die Goldilocks-Zeiten jetzt passe?


Robert Halver: Nach dem fulminanten Jahresstart der Aktienmärkte schlagen nun Spekulationen über die zukünftige Ausrichtung der Geldpolitik mit möglichen Eintrübungen am Anleihemarkt voll durch. Ansteckungseffekte vom Anleihemarkt machen vor Aktien nicht Halt und sorgen für einen sprunghaften Anstieg der Schwankungsbreite an den Aktienmärkten mit rekordhohen Tagesverlusten bei US-Aktien.

Wie weit die Korrektur noch reicht, lässt sich vom jetzigen Standpunkt aus betrachtet schwer sagen. Die Aktienmärkte sind aus ihrem "Dornröschenschlaf" aufgewacht. Allerdings sind Konsolidierungen jedoch prinzipiell als gesund zu betrachten, so dass nach diesem kräftigen reinigenden Gewitter wieder mit steigenden Kursen zu rechnen ist. Denn an dem soliden fundamentalen Umfeld für Aktien hat sich nichts geändert. Die Weltkonjunktur wächst so stark wie seit 2011 nicht mehr, die Unternehmensgewinne sprudeln und die niedrigeren Aktienkurse entspannen die zuletzt sportliche Bewertung insbesondere von US-Aktien.

Wie erklären Sie sich diesen Absturz?


Es gibt hier verschiendene Faktoren. Die sportlich hohen Aktienbewertungen sorgen schon seit geraumer Zeit für Spekulationen darüber, wie lange sich die Aktienhausse noch fortsetzen kann. Allerdings fehlte bislang die attraktive Anlagealternative zu Aktien angesichts grundsätzlich niedriger Anleiherenditen, die nach Inflation sogar negativ sind. Doch angesichts zwischenzeitlich auf Dreijahreshoch gestiegener Anleiherenditen nutzen Spekulanten dies nun aus, um kurzfristig auf fallende Aktienkurse zu setzen. Wetten auf steigende Aktienkurse wurden ruckzuck in Wetten auf fallende geändert. Hinzu kommt der sprunghafte Anstieg der Volatilität, der insbesondere von Algorithmen getriebene Hedge Funds dazu bewegt, sich aus Aktien zurückzuziehen, was wie ein Katalysator für den Aktieneinbruch wirkte. So etwas nennt man Flash Crash.

US-Präsident Donald Trump hat die Börsen mit seiner Steuerreform in Euphorie versetzt. Aber die jüngsten unerwartet starken Arbeitsmarktdaten vom Freitag schüren nun die Sorge vor steigender Inflation und dem Eingreifen der Fed. Zu Recht oder übertreiben die Märkte nun in die andere Richtung?


Grundsätzlich erwartet die US-Notenbank zwar einen weiteren Inflationsanstieg in den kommenden 12 Monaten. Doch gleichzeitig relativiert sie diesen Preisdruck mit der Einschätzung, dass sich die Inflation mittelfristig um ihren bislang gültigen Zielwert von zwei Prozent - aktuell liegt sie bei 2,1 Prozent - stabilisiert. Mit dieser tendenziös entspannten Inflationsprognose will die Fed dem deutlichen Renditesteigerungstrend am US-Anleihemarkt das fundamentale Wasser abgraben.

Die US-Notenbank ist sich bewusst, dass am Rentenmarkt die größte Anlageblase der Welt besteht. Eine unbedacht restriktive Geldpolitik hat das Potenzial, nicht nur in den USA, sondern weltweit Kurseinbrüche bei Zinspapieren auszulösen. Angesichts einer Gesamtweltverschuldung von etwa 250 Billionen US-Dollar fände eine neue Schuldenkrise den idealen Nährboden. Die von ihr langjährig betriebene Rettung des Finanzsystems wird sie insofern nicht durch eine übereilte Zinserhöhungspolitik zunichtemachen. Ich kann es auch plastischer ausdrücken: Die Geldpolitik hat weltweit nicht die Finanzwelt zehn Jahre lang stabilisiert, um sie dann im elften Jahr mit einem dicken Zinserhöhungs-Hintern wieder einzureißen.

Bei Investoren grassiert nun die Furcht vor einer schnelleren und härteren Zinswende in den USA. Statt drei Zinsschritten machen bereits Spekulationen die Runde, die US-Notenbank könnte im laufenden Jahr vier Mal an der Zinsschraube drehen. Teilen Sie diese Einschätzung?


Angesichts der finanzwirtschaftlichen und schuldenspezifischen Sachzwänge wird auch der neue Fed-Chef Powell auf geldpolitische Kontinuität setzen (müssen). Sein Wechsel an die Spitze der Fed bietet sogar eine Gelegenheit, sich zugunsten von nachhaltigem Wachstumserhalt von bisherigen Paradigmen zu lösen. Für die Fed ist es beunruhigend, dass trotz üppiger Geldpolitik und weltkonjunktureller Beschleunigung die Inflation grundsätzlich schwach bleibt. Bei plötzlichem Auftreten eines "Schwarzen Schwans" ist eine Re-Deflationierung nicht ausgeschlossen.

Unter der Ägide Powells könnte die US-Notenbank daher für einen längeren Zeitraum ein Überschießen der Inflation über zwei Prozent ohne geldpolitische Restriktion zulassen. Neben der Leitzinspolitik könnte die Fed ebenso ihr Tapering - also die Rückführung der Liquiditätsausstattung - an einer höheren Inflationstoleranz ausrichten. Damit schlüge die Fed zwei Fliegen mit einer Klappe. Einerseits kann sie mit ihrem bisherigen Zinserhöhungstrend zeigen, dass sie grundsätzlich handlungsfähig ist: Seht her, wir erhöhen doch die Leitzinsen. Andererseits sorgt sie aber dafür, dass die realen Leitzinsen und Anleiherenditen insgesamt schwach bleiben und damit nur begrenzte Gefahren für das Finanzsystem und Aktien drohen.

Auf Seite 2: Wie lange sich die EZB dem Druck der Fed entziehen kann, was Anleger jetzt tun sollten





Wie lange kann sich die EZB dem Druck der Fed entziehen?


In der Eurozone sind wir noch lange nicht soweit, von einer wirklich restriktiven Geldpolitik zu sprechen. Neben einer hartnäckig schwachen Inflation steckt die Erholung hierzulande noch in den Kinderschuhen. Selbst wenn in der zweiten Jahreshälfte 2019 mit Zinserhöhungen angefangen werden sollte, muss man sich immer vor Augen führen, dass diese Zinserhöhungen niemals die Chance haben werden, die Inflation einzuholen. Das ist keine restriktive Geldpolitik, sondern nur Verbalerotik. Überhaupt wird der Zinserhöhungsprozess so langsam sein, das im Vergleich dazu die Schnecke ein wildes Tier ist. Im Hinterkopf muss immer behalten, dass Europa überschuldet ist und die Euro-Krise nur mühsam beigelegt werden konnte, aber immer noch schwelt. Die EZB will in der Eurozone keine schlafenden Hunde wecken, die sie mit viel geldpolitischem Schlafmittel in den Dämmerzustand gebracht hat. Und da sich die Welt ja in einem Währungsabwertungswettlauf behindert, wird Mario Draghi wird den Amerikanern keine Dollarschwäche durch wirkliche harte europäische Zinserhöhungspolitik durchgehen lassen. Der europäische Export ist zu wichtig, um ihn mit einem harten Euro zu torpedieren.

Was würde ein solches Szenario für die Aktienmärkte bedeuten?


Da es insgesamt zu keiner restriktiven Geldpolitik der EZB kommen wird, die die zunehmende fundamentale Substanz von Aktien der Eurozone untergräbt, sehen wir auf absehbare Zeit wieder eine Stabilisierung der Aktienmärkte.

Also war der Absturz in den vergangenen beiden Tagen nur ein Vorbote auf härtere Zeiten an den Börsen?


Nein, denn das geldpolitische Umfeld bleibt grundsätzlich freundlich, wenn auch etwas weniger üppig. Und an genau diese Stelle tritt eine deutlich stabilisierte Weltkonjunktur, das robuste Gewinnwachstum der Unternehmen bei nun entspannteren Aktienbewertungen und weniger überschwängliches, dafür konstruktives Aktienmarktsentiment.

Wie sollten sich Anleger angesichts eines solchen Umfelds jetzt aufstellen?


Die Aktienmärkte sollten sich jetzt zunächst austoben wie unerzogene Kinder, bevor man wieder üppig in sie hineingeht. Aber einen Crash sehe ich nicht. Anleger sollten die Volatilität nicht als Feind, sondern als Freund betrachten. Denn die zunehmende Volatilität an den Finanzmärkten schreit förmlich nach Aktiensparplänen, an denen Anleger auch weiterhin unbedingt festhalten sollten. Denn des Anlegers bester Freund ist der Durchschnittskosteneffekt. Denn wenn die Kurse zwischenzeitlich fallen, erhält man bei gleichbleibendem Ansparplan mehr Aktienanteile. Bei wieder steigenden Kursen macht sich das kaufmännische Motto "Im Einkauf liegt der Gewinn" positiv bemerkbar. Über eine dann verbreiterte Vermögensbasis nimmt man bevorstehende Kurssteigerungen umso stärker mit.