"Nichts an dem heute veröffentlichten Artikel ist wahr." Das war die Reaktion von Wire­card auf den dritten und jüngsten Artikel der "Financial Times" (FT) über mutmaßliche Unregelmäßigkeiten beim Bezahldienstleister. Darin wirft die renommierte britische Finanzzeitung dem Unternehmen aus Aschheim bei München systematischen Bilanzbetrug vor allem in Asien vor. Erste Folge: Am Freitag durchsuchte die Polizei in Singapur die Büros der Firma.

Laut dem Bericht soll Wirecard Umsätze verschoben haben, das Verfahren wird "Round Tripping" genannt. Laut Aussagen eines Wire­card-Managers aus Singapur, mit dem die FT laut Artikel gesprochen hat, soll das Unternehmen Gelder der Wirecard-Bank in Deutschland an eine stillgelegte Tochter in Hongkong transferiert haben. Diese seien dann deklariert als Umsätze an die indische Niederlassung des auf Online-Bezahlvorgänge spezialisierten Dienstleisters geflossen sein.

Damit sollten vor der Übernahme des Prepaid- Kreditkartengeschäfts der US-Bank ­Citigroup 2017 die Behörden in Hongkong überzeugt werden, eine Lizenz zu erteilen. Mitarbeiter sollen zu diesem Zweck Rechnungen und Verträge gefälscht haben. Auch im Zusammenhang mit der 325-Millionen-Euro schweren Übernahme des indischen Unternehmens GI Retail 2015 soll der FT zufolge geschummelt worden sein.

Dem Whistleblower, auf den sich die FT beruft, sei die Methodik im Rahmen eines Unternehmens-Meetings erklärt worden. Die FT schlussfolgerte auch mithilfe einer ihr vorliegenden 30-seitigen Einschätzung der renommierten asiatischen Anwaltskanzlei Rajah & Tann, dass dahinter System steckt. Diesen Bericht hatten die britischen Journalisten bereits vergangene Woche in zwei Veröffentlichungen zitiert. Der Börsenwert von Wirecard war daraufhin in der Spitze um sieben Milliarden Euro eingebrochen. Die dritte und ­äußerst detailreiche Schilderung der Vorgänge in Asien hat den sich erholenden Kurs erneut auf Talfahrt geschickt - auch wenn die Quellenlage der FT die Gleiche zu sein scheint wie zuvor.

Gegendarstellung verpufft

Das belegt, dass Börsianer die Gegendarstellungen des deutschen Fintechs zunehmend skeptisch sehen. Vorstands­chef Markus Braun hat in einer Telefonkonferenz Anfang vergangener Woche den Vorfall als Resultat von Rivalitäten unter Kollegen in Singapur beschrieben. "Wir gehen davon aus, dass es sich um persönliche Motive handelt, nicht um Fragen des Accountings oder der Compliance", so Braun. Es habe mehr mit der Beziehung zwischen Menschen zu tun, wo es eben Emotionen gebe, als mit Prozessen im Unternehmen.

Seit Anfang April 2018 soll die Compliance-Abteilung des DAX-Unternehmens in den Vorgang involviert sein. Etwa anderthalb Monate später beauftragten die internen Kontrolleure die Anwälte von Rajah & Tann mit Ermittlungen. Diese sind noch nicht abgeschlossen. "Bisher haben weder die ­interne Compliance-Abteilung von Wire­card noch Rajah & Tann schlüssige Feststellungen für ein strafbares Verhalten von Führungskräften oder Mitarbeitern des Unternehmens gefunden", heißt es von Wirecard. Braun erwartet, dass die Untersuchung bald beendet sein wird, und will die Ergebnisse dann veröffentlichen.

"Ich erkenne keine Auswirkungen der Berichterstattung auf das operative Geschäft", sagte der mit mehr als sieben Prozent selbst investierte Firmenchef noch in der Telefonkonferenz. Zudem korrigierte er die von der FT ursprünglich genannte Schadenssumme von 37 Millionen Euro an betroffenem Gesamtumsatz. Involviert seien knapp sieben Millionen Euro Umsatz, netto rund vier Millionen Euro Kosten sowie eine Softwaretransaktion im Wert von 2,6 Millionen Euro zwischen 2015 und 2018.

Die Beruhigungspille an die Investoren wirkte nicht lang. Das Misstrauen ist inzwischen groß, denn ähnliche Vorwürfe gegen das vor 20 Jahren als Callcenter gegründete Unternehmen werden bereits seit 2008 erhoben. Damals wollte der Schutzverband der Kapitalanleger (SdK) Fehlbilanzierung entdeckt haben. Zwei Vereinsmitglieder wurden indes wegen Marktmanipulation verurteilt, weil sie mit Differenzkontrakten auf einen Kursverfall gesetzt hatten. Auch deshalb wurde der Vorfall als kriminelle Attacke abgehakt.

Auch der eigens zu dem Zweck gegründete Nachrichtendienst Gomopa 2010 und das bis dahin unbekannte Researchhaus Zatarra legten 2016 scheinbare Beweise für Geldwäsche vor, doch Wirecard konnte nichts nachgewiesen werden. Nach den FT-Artikeln wächst die Skepsis gegenüber dem einst in der Porno- und Glücksspielszene groß gewordenen Unternehmen, um das sich immer dunkle Gerüchte rankten. Stutzig macht auch der Vergleich mit dem direkten Konkurrenten Adyen. Unter Finanzfachleuten tauchte etwa schon mehrfach Frage auf, warum Wirecard eine weitaus höhere Nettomarge als die Niederländer bei nahezu identischem Geschäftsmodell und deutlich geringerer Mitarbeiterzahl ausweise.

Die Staatsanwaltschaft München hat mit Unterstützung der Bafin Ermittlungen aufgenommen - weil Wirecard eine Strafanzeige gegen unbekannt wegen des Verdachts auf Marktmanipulation gestellt hat. Die Hinweise darauf sind geringfügig: Mit dem britischen Hedgefonds Odey hat nur ein Shortseller laut Bundesanzeiger zuletzt seine Leer­position erhöht. Mehrere US-Kanzleien haben in den vergangenen Tagen Aufrufe gestartet, um von Kursverlusten betroffene Anleger als Mandanten zusammenzutrommeln. Wirecard war bis zum Dienstagabend nicht für ein Stellungnahme zu erreichen. Unter den Anwaltsfirmen, die das Dax-Unternehmen ins Visier nehmen, ist auch die bekannte US-Kanzlei Hagens Berman, die schon etlichen anderen Konzernen wie etwa Volkswagen im "Dieselgate"-Skandal zu schaffen machte.

Wirecard klagt nun auch gegen die FT, um das Unternehmen und die Persönlichkeitsrechte der Mitarbeiter zu schützen. Vergangene Woche hat Braun den Vorfall noch als "Non-Event" bezeichnet. Das geht nun nicht mehr.

Investor-Info

Wirecard
Wachstumswunder

Den Zahlen zufolge läuft es bei Wirecard rund. Der Umsatz des Bezahldienstleisters wächst außergewöhnlich stark, zwischen 25 und 30 Prozent jährlich. Für 2019 erwarten Analysten ein Gewinnwachstum von rund 40 Prozent. Damit würde die im Branchenvergleich ohnehin hohe operative Marge (Ebitda) von über 27 Prozent weiter steigen. Gerade die permanenten Erfolgszahlen sorgen jedoch für Skepsis. Stellen sich die Vorwürfe der FT als wahr heraus, drohen dem Unternehmen Risiken etwa durch Schadenersatzklagen in nicht absehbarer Höhe. Deshalb stufen wir die Aktie auf "Verkaufen". Anleger sollten Kursspitzen zum Ausstieg nutzen.

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