Vor Beginn des EU-Gipfels in Brüssel signalisierten zahlreiche Regierungschefs wie Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, sie würden die Vereinbarung abnicken. Der konservative britische Premierminister Boris Johnson sprach bei einem Auftritt mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker von einem Durchbruch. Unklar blieb aber, ob Johnson im britischen Unterhaus eine Mehrheit für die Vereinbarung bekommt. Er selbst hat im Parlament mit seinen Torys keine eigene Mehrheit. Die Abstimmung in London ist für Samstag vorgesehen. Auch das Europäische Parlament muss noch zustimmen.

Nach tagelangen Verhandlungen gaben Juncker und Johnson die Einigung am Donnerstagmittag bekannt. Juncker bezeichnete das Abkommen als fair und ausbalanciert. "Wir haben einen großartigen, neuen Brexit-Deal", erklärte auch Johnson. Großbritannien erhalte damit die Kontrolle über seine Politik zurück. Unklar war am Donnerstag zunächst, ob es auch bei einer Zustimmung des Unterhauses eine zumindest kurze Verschiebung des angepeilten Austrittsdatums am 31. Oktober geben muss, um den angestrebten Vertrag rechtssicher zu machen. Sollte eines der beiden Parlamente nicht zustimmen, droht ein ungeregelter Austritt des Königreichs aus der EU.

BARNIER BETONT SONDERSTATUS FÜR NORDIRLAND


EU-Chefunterhändler Michel Barnier sagte, dass das neu ausgehandelte Abkommen Rechtssicherheit schaffe. Es werde eine Übergangsphase bis Ende 2020 geben. Eine harte Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland sei ausgeschlossen. Nordirland werde etwa im Güterverkehr weiter EU-Regeln unterliegen. Zugleich werde die Provinz aber auch der britischen Zollhoheit für Waren unterstehen, wenn diese dort verbleiben - damit würden künftige britische Handelsabkommen mit Drittstaaten auch in Nordirland gelten. Zugleich sei der Weg geebnet für ein Handelsabkommen der EU mit Großbritannien, in dem es weder Zölle noch Quoten gebe, sagte Barnier in Brüssel. Nordirland werde zudem in dem Vertrag die Möglichkeit eingeräumt, alle vier Jahre neu zu entscheiden, ob das Abkommen weiter gelten solle, sagte Barnier. Sollte sich das nordirische Parlament in Zukunft dagegen entscheiden, habe die EU zwei Jahre Zeit, Schutzmaßnahmen für den Binnenmarkt-Schutz zu ergreifen.

Eigentlich hatten viele EU-Regierungen mehr Zeit verlangt, um einen Kompromiss vor dem EU-Gipfel prüfen zu können. Barnier argumentierte jedoch, dass es keine Überraschungen gebe, weshalb die EU-Kommission auf eine Zustimmung noch bei dem Gipfel in Brüssel am Donnerstag und Freitag hofft. In der Diskussion ist weiter, ob ein EU-Sondergipfel vor dem 31. Oktober nötig ist, wenn der Gipfel am Donnerstag nur seine politische Zustimmung zu dem ausgehandelten Kompromiss geben kann. Auch Merkel kündigte trotz ihrer grundsätzlichen Zustimmung eine vertiefte Prüfung des Kompromisses an. Sie bezeichnete es aber als gutes Zeichen, dass der irische Ministerpräsident Leo Varadkar für den Kompromiss werbe. Die EU-27 hatte stets betont, dass die Solidarität mit dem Mitglied Irland Priorität in den Verhandlungen mit London habe.

KRITIK AUS DEN PARLAMENTEN


Nach der Einigung setzten zudem die Interpretationen ein, wer sich durchgesetzt habe. Auf EU-Seite wurde betont, dass die britische Zollerhebung im Auftrag der EU in Nordirland europäischem Recht und damit auch dem Europäischen Gerichtshof unterliege. Johnson habe nun akzeptiert, was seine Vorgängerin Theresa May mit Blick auf den protestantischen nordirischen Koalitionspartner DUP immer abgelehnt habe. Der britische Oppositionsführer, Labour-Chef Jeremy Corbyn, sprach von einem "Ausverkauf" und kündigte die Ablehnung des Kompromisses durch seine Partei an. Johnson habe einen noch schlechteren Deal ausgehandelt als seine Vorgängerin May, sagte er. Auch die nordirische DUP-Partei und die EU-freundliche schottische SNP kündigten ein Nein an. Damit gilt als unsicher, ob Johnson eine Mehrheit im Unterhaus zustande bekommt.

Aus dem Europäischen Parlament kam zwar Zustimmung, aber auch Kritik. Er sei unsicher, ob die Nordirland-Lösung den EU-Binnenmarkt ausreichend vor Dumpingprodukten aus Drittstaaten schütze, twitterte etwa der Vorsitzende des Handelsausschusses im Europäischen Parlament, Bernd Lange (SPD). Er bemängelte, dass die Kontrolle allein bei britischen Behörden liege.

An den Börsen legten die Kurse nach Bekanntgabe der Einigung dennoch vorübergehend zu. Die Erleichterung der Anleger über den Brexit-Deal gab auch dem Pfund Sterling Zusatzschub. "Der Durchbruch ist geschafft", sagte Jörg Krämer, Chefökonom der Commerzbank. "Es sieht nach einer sauberen Scheidung aus. Wenn das britische Parlament den Vertrag absegnet, ist das Gespenst eines ungeordneten Brexit vom Tisch." Das seien sehr gute Nachrichten auch für die deutsche Exportwirtschaft.

rtr