Fachkräftemangel, so etwas kennt Rainer Gläß nicht. Er wisse gar nicht, was man mit dem Begriff meine, sagt der Firmenchef, sachlich und nüchtern, die ­Ellenbogen ruhen auf dem Tisch. "Wer als Unternehmen gute Mitarbeiter möchte, muss so aufgestellt sein, dass sich die Menschen für dieses Unternehmen gern entscheiden."

Im Fall seines Konzerns, dem Softwareentwickler GK Software, heißt das: ein Skilehrer, eine Fitnesstrainerin, zwei Cafés mit gelernten Baristas hinter der Theke, ein eigener Koch für die Kantine, eine Kindertagesstätte mit verlängerten Öffnungszeiten, bei Bedarf eine Wohnung.

Und damit am Stammsitz des börsennotierten Unternehmens im vogtländischen Schöneck das allgemeine Ambiente stimmt, hat Gläß dem Ort ein Restaurant mit gehobener Küche samt Hotel spendiert, Beleuchtung für die Skipiste, ein Kettenfahrzeug zum Planieren derselben, und der aktive Skifahrer hat einen von zwei Skiklubs gegründet. Ein professionell angelegtes Langlauf-Trainingsgelände wartet auf Umsetzung, eine ehemalige Leistungssportlerin und ein Architekt haben die Pläne ausgearbeitet.

Schöneck sei ein "exzellenter Lebens­ort", bilanziert der Firmenchef und lehnt sich zufrieden zurück. Ob vor, seit oder dank seiner Investitionen, bleibt offen. Tatsache ist, dass mit GK Software ein international führender Anbieter für Systemlösungen im Einzelhandel in der hintersten Ecke des Vogtlands sitzt, der Fachkräfte aus der ganzen Welt anzieht. Freilich weiß der Co-Gründer und Chef Gläß, dass dies nicht nur am Freizeitwert des Ski-, Bike- und Wanderörtchens Schöneck liegt. Die Interessenten wollten zur Nummer 1 in dem Branchensegment, sagt er, zu dem sich der Konzern seit der Gründung in den 90er-Jahren hochgearbeitet hat.

GK Software entwickelt Softwarelösungen für den Handel, etwa für Aldi, Lidl, Edeka und mehrere Baumärkte. Insgesamt agiert das Unternehmen in 60 Ländern weltweit. Gleichzeitig zählt es zu den wenigen börsennotierten Firmen in Mitteldeutschland.

In den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres erzielte der Konzern einen Umsatz von 79,7 Millionen Euro, das waren 6,5 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Der Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) ging dagegen um 32 Prozent auf 2,6 Millionen Euro zurück - ein Minus, auf das Chef Gläß mit der Ankündigung eines "Effizienzprogramms" für das Unternehmen reagierte. Einzelne Budgets sollen bereits geschrumpft sein, berichten Mitarbeiter. Insgesamt bestätigte er die Prognose, das Umsatzwachstum in diesem Jahr gegenüber 2017 auf das Eineinhalbfache steigern zu wollen. So werde man auch das Ziel einer Ebit-Marge von 15 Prozent auf die Betriebsleistung erreichen.

Sprung in die Selbstständigkeit


Die Entwicklung des Softwarekonzerns ist unmittelbar mit der Lebensgeschichte von Gläß verbunden. Für den in Schöneck aufgewachsenen Mann kommt die Wende zur richtigen Zeit - nach Studium und ersten Schritten im Berufsleben gibt es keinen mehr, der ihn im Vorantreiben seiner Ideen bremsen will. Wo der Osten über weite Strecken in Arbeitslosigkeit und Ohnmacht versinkt, sitzt Gläß mit seinem Geschäftspartner Stephan Kronmüller Anfang der 90er-Jahre in Schöneck vor zwei Computern und wagt den Sprung in die Selbstständigkeit. "Immer hat da Licht gebrannt, wenn man vorbeilief, die haben rund um die Uhr gearbeitet", erzählt eine Bäckereiverkäuferin im Ort. Gläß programmiert bevorzugt tagsüber, sein Partner nachts - so waren die zwei fast rund um die Uhr produktiv, ohne sich zu stören.

Die Informatiker konzentrieren sich zunächst auf Buchhaltungsprogramme für den Mittelstand, gerade als der mit den ersten digitalen Schritten bewährte Geschäftsmodelle auf den Prüfstand stellt. Sie erwerben sich erste Referenzen, schwenken angesichts des steigenden Wettbewerbsdrucks allerdings um und richten ihre Programme auf Kassensoftware für den Einzelhandel aus, auch hier wieder passend zum beginnenden Umbruch in der Branche: Das Einscannen von Waren wird Standard, bargeldloses Zahlen häufiger.

Die Schönecker wollen ein System entwickeln, das Kasseninformationen mit solchen aus der Finanzabteilung, dem Lager und dem Bestellprozess verknüpft. Als ein führender Baumarkt sich für das Unternehmen entscheidet, ist der Einstieg gelungen.

Fortan kümmert sich Gläß vorrangig um die Strategie, sein Partner um die Softwarearchitektur. Das Unternehmen wächst - entscheidende Schritte sind der Börsengang vor zwölf Jahren und die Aufnahme in den SAP-Produktkatalog 2009. Mittlerweile firmiert GK Software als europäische Aktiengesellschaft (SE). Aus dem Zweimannbetrieb, dessen Inhaber die kleinen Geschäftsräume in der Schönecker Hauptstraße selbst reinigen, ist ein Konzern mit fast 1200 Mitarbeitern geworden. Der Umsatz hat sich seit dem Börsengang 2008 verzehnfacht, zu Niederlassungen in Berlin und in weiteren deutschen Städten kommen Standorte in den USA, in Südafrika, Russland, der Ukraine und vor allem auch Tschechien als Entwicklungsstandort.

Wer zu Rainer Gläß will, muss nach wie vor nach Schöneck kommen. Am Rand des Ortes hat er einen Campus anlegen lassen für die 200 Mitarbeiter am Konzernsitz. Eine Außenwand fungiert als Kletterwand, über Besprechungsräumen können die Beschäftigten in einem Fitnessstudio trainieren und Kurse belegen. Überhaupt spielt Sport eine große Rolle - kaum verwunderlich angesichts der Tatsache, dass der Vater von Rainer Gläß mit der Kammloipe ­einen Ski-Fernwanderweg initiiert hat (und ihn nach wie vor pflegt), der auf etwa 36 Kilometern im deutsch-tschechischen Grenzgebiet mäandriert und hinter dem Campus vorbeiführt. Gläß selbst, schlank und hochgewachsen, hat ein Buch übers Skifahren geschrieben und fährt Ski - vor der Arbeit, danach oder mittags zwischendurch. Im Sommer tauscht er das Sportgerät gegen ein Rennrad.

Alles dient dem Unternehmen


Gläß sieht die örtliche Präsenz als günstige Fügung. "Ein Teil unserer Geschichte hängt mit dem Ort zusammen", sagt er. Dabei wahrt der zurückhaltende Mann - Anzug, Hemd, unauffälliger Haarschnitt - bei Investitionen stets eine Art Balance: Was er macht, dient dem Unternehmenszweck - und der Ort darf daran teilhaben. Sei es beim öffentlichen gehobenen Restaurant samt Hotel, dem Tannenhaus, sei es bei den Verbesserungen an der Skipiste.

Auch das Campus-Café, das Kaffees verschiedener Röstungen und Selbstgebackenes anbietet, ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Das Firmeninternet strahlt auf den Skihang, sodass es auf der Piste WLAN gibt. Gläß engagiert sich nicht direkt in der Ortspolitik, sitzt allerdings im Beirat einer städtischen Tochter, welche die Skiwelt und Mountainbike-Strecke betreibt.

Gleichzeitig färbt der Unternehmergeist auf den Rest der 3500-Einwohner-Gemeinde ab, die als "Balkon des Vogtlands" gilt, wegen der Aussicht vom Fichtelgebirge bis zum Thüringer Wald und angeblich bei guter Sicht auch zum Leipziger Völkerschlacht-Denkmal. Während in anderen peripheren Orten Tristesse das Straßenbild prägt, sticht in Schöneck kaum Leerstand ins Auge. Die öffentliche Anreise ist mühsam, und doch bedient die Bahn gleich zwei Haltestellen im Ort. Zwei Supermärkte und eine Handvoll Bäcker garantieren die Nahversorgung, ein Krankenhaus und eine weiterführende Schule ergänzen die Infrastruktur und stellen genauso Arbeitsplätze wie ein 1000-Betten-Hotel­komplex, ein Erbe sozialistischer Tourismuswirtschaft. In Schöneck herrscht Vollbeschäftigung.

Und: Hier traut man sich was. Wenn für den Neubau einer Jugendherberge Architekten einen Entwurf ganz in schwarz und gelb durchsetzen oder ein Einheimischer zu smarten Tiny Houses umgebaute Seecontainer für Feriengäste an die Skipiste setzt, rümpfen zwar manche im Ort die Nase. Aber sie halten es aus. Gläß sagt, die Mentalität der Menschen sei mitverantwortlich für den Erfolg von GK Software: "Bodenständig, verbindlich und innovationsfreundlich, das ist eine ausgezeichnete Konstellation."

Kreativwerkstatt in der Provinz


Dass es zum Schmieden eines international agierenden Konzerns mehr braucht, gehört freilich zur Wahrheit dazu - gerade bei der Strategieentwicklung sind risikobereite Querdenker von außen wertvoll. Die richtige Mischung sei entscheidend, sagt Gläß mit Verweis auf die "globale Präsenz" von GK Software. Die besten Talente müsse man weltweit suchen und gewinnen. Gläß selbst und seine Familie unterhalten einen weiteren Wohnsitz in Potsdam; den vier Kindern aus zwei Ehen steht ohnehin jede Möglichkeit offen, bei aller Liebe zu den heimatlichen Wurzeln die Welt ausgiebig zu erkunden.

In Schöneck hat sich Gläß zuletzt aufgemacht, die ganze Region zwischen Chemnitz und Hof zukunftsfest aufzustellen, und dazu ein Unternehmensbündnis gegründet, das sich gegenseitig bei Digitalisierung und der öffentlichen Wahrnehmung helfen will. Dem Netzwerk "Südwestsachsen Digital" gehören mehr als 60 Mitglieder an, Vorstandsvorsitzender des gemeinnützigen Vereins ist Gläß. Der GK Software kann perspektivisch zugutekommen, dass die Partner neuer Mitarbeiter einen ebenso hochwertigen Job im Vogtland finden - so jedenfalls die Hoffnung.

Mit dem jüngsten Zukauf, dem Chemnitzer Softwareentwickler Prudsys, will sich GK Software Wissen rund um künstliche Intelligenz sichern, und zwar mit der Aussicht auf den Wandel im Einkaufsverhalten von Kunden. Nicht zuletzt hat der Firmenchef in der Zentrale ein für alle zugängliches Techniklabor einrichten lassen. In diesem Hack-Space können Interessierte elektronische Geräte selbst bauen oder versuchen, Software zu programmieren. Die Kreativwerkstatt hat GK Software in Anlehnung an das Werk "Per Anhalter durch die Galaxis" Hateotu genannt - eine Abkürzung für "Hack at the End of the Universe".

Kurzvita

Der Sportfan
Rainer Gläß, Jahrgang 1959, gründet nach einem Informatikstudium an der Universität Dresden zusammen mit ­seinem Partner Stephan Kronmüller 1990 die G & K Datensysteme GmbH. 2001 wandeln die Gründer den Firmennamen in GK Software um. Für seine unternehmerischen Leistungen und das Engagement im Vogtland wurde Gläß unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Er ist in zweiter Ehe verheiratet und hat insgesamt vier Kinder. Neben dem Skisport zählt das Rennradfahren zu seinen Stecken­pferden.

Die Aktie

Euphorie und Abkühlung
Die Aktie von GK Software entwickelte sich nach dem Börsendebut 2008 gut und legte ab 2017 eine fulminante Rally hin. Vom ersten Kurs bei 21 Euro ging es so bis Anfang 2018 auf über 125 Euro hinauf. Die Euphorie hat sich merklich abgekühlt. Zeichner der Kapitalerhöhung vom vergangenen August etwa, die neue Aktien für 64 Euro erwarben, verbuchen noch Verluste. Bodenbildung abwarten.