Die DAX-Konzerne sind im Übernahmefieber. 82 Milliarden Euro haben sie allein im vergangenen Jahr für Zukäufe ausgegeben, ergab eine Untersuchung der Wirtschaftsberatung EY. Das ist so viel wie seit 2007 nicht mehr, kurz bevor die Finanzkrise ausbrach. Damals wie heute zahlen Firmen teil immense Preisaufschläge, um sich im Übernahmepoker gegen die Konkurrenz durchzusetzen. Beispiel Monsanto: Der Pharmakonzern Bayer zahlt für den US-Saatgutriesen 44 Prozent mehr, als dieser bei Bekanntgabe der geplanten Übernahme an der Börse wert war, insgesamt 59 Milliarden Euro.

Preisaufschläge in Milliardenhöhe wie diese haben die Bilanzen der DAX-Konzerne regelrecht aufgeblasen. Denn sie werden unter dem Bilanzposten Firmenwert (englisch: Goodwill) verbucht. Dieser hat nach unseren Berechnungen 2016 einen Rekordwert von 254,3 Milliarden Euro erreicht. Bei acht DAX-Konzernen übersteigt der Goodwill sogar das Eigenkapital. Doch wie schnell sich vermeintliche Firmenwerte in Milliardenhöhe in nichts auflösen und zu Milliardenabschreibungen führen können, mussten vor allem die Aktionäre der Banken und Versorger zuletzt leidvoll erfahren. Investoren sollten deshalb bei Unternehmen mit besonders hohem Goodwill ganz genau hinsehen (vgl. Tabelle Seite 3).

Geschäfts- oder Firmenwerte werden in den Bilanzen als Vermögen, also auf der Haben-Seite, verbucht. Sie entstehen, wenn sich nach einer Übernahme herausstellt, dass der Kaufpreis höher war als der Substanzwert. Der Mehrwert lässt sich etwa durch potenzielle Synergien oder den Zugang zu einem vielversprechenden neuen Markt begründen. Früher musste der Goodwill innerhalb von zehn bis 15 Jahren abgeschrieben werden. Das ist seit einer Änderung der Bilanzregeln seit 2004 nicht mehr notwendig. Stattdessen müssen die Firmen jedes Jahr in einem komplexen Wertminderungstest nachweisen, ob der Firmenwert noch korrekt in der Bilanz steht. Dabei bestehen jedoch erhebliche Ermessensspielräume. Die Folge: Die meisten Unternehmen schreiben Zukäufe kaum noch ab. Die Vermögensverwaltung Flossbach von Storch warnte deshalb bereits 2015 vor einer "Goodwill-Blase".

Verluste in Milliardenhöhe



Denn wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert, Unternehmensteile verkauft werden oder der Vorstandsvorsitzende wechselt, werden die vermeintlichen Geschäftswerte oft mit einem Federstrich nach unten korrigiert. Diese Abschreibungen verursachen teilweise Verluste in Milliardenhöhe und machen zum Teil sogar Kapitalerhöhungen notwendig.

Am schmerzhaftesten zu spüren bekamen das die Aktionäre des Energieversorgers Eon. In den fünf Jahren vor der Aufspaltung des Konzerns lösten sich Firmenwerte von mehr als 7,6 Milliarden Euro aus der Eon-Bilanz in Luft auf und verringerten das Eigenkapital des einst größten deutschen Versorgers stark (siehe Seite 4). Die Folgen waren Milliardenverluste, Dividendenkürzungen und zuletzt, im März, eine Kapitalerhöhung.

Grund für die notwendigen Wertkorrekturen auf den Goodwill war aber nicht die Energiewende in Deutschland (und die damit verbundenen Milliardenabschreibungen auf Atomkraftwerke). Vielmehr stellte sich heraus, dass Tochterfirmen in Spanien und Italien, die Ex-Eon-Chef Wulf Bernotat im Jahr 2008 bei seiner 11,5-Milliarden-Euro-Einkaufstour in Südeuropa gekauft hatte, viel weniger wert waren als bis dato bilanziert. Erst als Eon durch die Energiewende 2011 in die Krise rutschte, räumte sein Nachfolger Johannes Teyssen die Bilanz auf.

Auf Seite 2: Vorsicht bei Chefwechsel





Vorsicht bei Chefwechsel



Häufig ist es ein Wechsel des Vorstandsvorsitzenden oder Finanzvorstands, der zu Korrekturen beim Goodwill führt. Denn die Neuen wollen reinen Tisch machen und Fehlinvestitionen der Vergangenheit dem Vorgänger in die Schuhe schieben.

So hat die Deutsche Bank seit dem Abgang von Josef Ackermann, der das Finanzinstitut von 2006 bis 2012 geführt hatte, mehr als die Hälfte ihres Goodwills abgeschrieben. Über fünf Milliarden Euro verflüchtigten sich, weil die Nachfolger Anshu Jain und Jürgen Fitschen sowie der heutige Chef John Cryan die Bilanz von Altlasten befreiten.

Auch die Commerzbank radierte im vergangenen Jahr, nach dem Abschied des langjährigen Firmenchefs Martin Blessing, fast 30 Prozent ihrer Firmenwerte oder 600 Millionen Euro einfach aus. Dabei handelte es sich größtenteils um Abschreibungen auf das Investmentbanking der ehemaligen Dresdner Bank, die Blessing 2009 für 5,5 Milliarden Euro übernommen hatte. Nachfolger Martin Zielke dagegen will das Investmentbanking eindampfen und misst dem Zukauf nun deutlich weniger Wert bei.

Vor allem bei teuren Übernahmen ist also Vorsicht angesagt. Und die finden derzeit vor allem in den Branchen Chemie, Pharma und Medizin statt. Das bekannteste Beispiel ist der erwähnte Kauf des US-Saatgutkonzerns Monsanto durch das Chemie- und Pharmaunternehmen Bayer. Gelingt die Übernahme, wird sich der Goodwill bei den Leverkusenern deutlich erhöhen. Das bestätigt das Unternehmen auf Nachfrage. Schon jetzt hat Bayer mehr als 16 Milliarden Euro an Firmenwerten angesammelt. Das entspricht mehr als der Hälfte des Eigenkapitals.

Noch ungünstiger ist das Verhältnis von Goodwill zu Eigenkapital bei dem Gesundheitsunternehmen Fresenius. Beim DAX-Konzern aus Bad Homburg ist der Firmenwert im ersten Quartal sogar noch einmal deutlich gestiegen. Hauptgrund dafür ist der Erwerb des spanischen Klinikbetreiber Quirónsalud für 5,8 Milliarden Euro, der größte Zukauf in der Firmengeschichte. Inzwischen beträgt das Verhältnis von Goodwill zu Eigenkapital 120 Prozent - Tendenz weiter steigend. Denn im April hat Vorstandschef Stephan Sturm die Übernahme des US-Konkurrenten Akorn für 4,4 Milliarden Euro verkündet.

Auch beim Chemie- und Pharmakonzern Merck spiegelt sich der Kauf des US-Chemikalienhändlers Sigma-Aldrich für 13,1 Milliarden Euro aus dem Jahr 2015 im Goodwill wider. Dieser steht seit 2016 mit 8,8 Milliarden Euro in der Bilanz, so ein Merck-Sprecher. Ein Risiko kann er darin nicht erkennen: "Goodwill ist nur dann ein Bilanzrisiko, wenn sich herausstellt, dass bei der Akquisition getroffene Annahmen über die zukünftige Entwicklung des Geschäfts wesentlich zu optimistisch waren", sagt er. Davon könne bei Sigma-Aldrich keine Rede sein.

Ähnlich argumentiert man bei der Deutschen Post, bei der der Firmenwert ebenfalls das Eigenkapital übersteigt. Zwar könne eine negative operative Entwicklung des Konzerns den Goodwill -negativ beeinflussen. "Aufgrund der sehr positiven Entwicklung der vergangenen Jahre gehen wir davon allerdings nicht aus", teilte das Unternehmen mit.

Deutliche Zuwächse zum Firmenwert verzeichnet auch der TV-Konzern ProSiebenSat.1. Das sei ein Abbild der Zukäufe im Digitalbereich in den vergangenen Jahren, erläutert eine Sprecherin. Dass der Goodwill inzwischen das Eigenkapital deutlich übersteigt, sieht man auch in Unterföhring nicht als Bilanzrisiko.

Auf Seite 3: Makroökonomische Risiken





Makroökonomische Risiken, Datenanalyse



Alle Unternehmen weisen jedoch darauf hin, dass eine negative makroökonomische Entwicklung und Branchenrisiken den Wert des Goodwill mindern können. Letztere haben die Firmenwerte von Banken und Versorgern in kürzester Zeit pulverisiert. Doch auch die aktuellen Risiken in der Weltwirtschaft sind nicht zu vernachlässigen. Ob nun drohende Handelsschranken in den USA, die Folgen eines harten Brexits oder ein Wiederaufflammen der Krise in Südeuropa - sie alle haben das Potenzial, die Firmenwerte in den Bilanzen zu reduzieren.

Zudem werden immer wieder Forderungen laut, die Werthaltigkeitstests zu reformieren oder gar eine planmäßige Abschreibung des Goodwill wieder einzuführen. Das zuständige Internationale Rechnungslegungsstandard-Gremium (IASB) debattiert bereits seit einigen Jahren, ob eine Korrektur der Abschreibungsregeln notwendig ist, "um den Bedenken von Investoren gerecht zu werden". Diese beklagen demnach, dass Abschreibungen erst spät stattfinden und der Firmenwert zu hoch angesetzt wird. 
Schon heute prüfen die Bilanzpolizisten der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) regelmäßig, wie die Unternehmen den Goodwill berechnen. Denn es ist der Posten, den die untersuchten Firmen in den vergangenen Jahren am häufigsten fehlerhaft bilanziert haben.

Datenanalyse



Wir haben in einer aufwendigen Datenanalyse die Bilanzen der DAX-Konzerne durchleuchtet und drei Bilanzrisiken identifiziert, die Investoren beachten sollten: den Mehrwert von Übernahmen (Goodwill), den aktuellen Wert der Pensionszusagen und die Leasingverpflichtungen (z. B. Immobilien, Flugzeuge, Maschinen). Letztere gehen bislang noch nicht in die Bilanz ein. Das ändert sich ab 2019 - mit spürbaren Folgen für leasingintensive Unternehmen.



Auf Seite 4: Beispiel E.On





E.On: Dünne Eigenkapitaldecke



Der Energieversorger Eon hat aufgrund der Aufspaltung und der damit verbundenen Abschreibungen kaum noch Rücklagen

Wie die Pfunde von Vorstandschef Johannes Teyssen, so ist in den vergangenen Jahren auch das Eigenkapital des einst größten deutschen Energieversorgers Eon dahingeschmolzen. Ende 2016 hatten die Abspaltung des konventionellen Energiegeschäfts, hohe Rückstellungen für den Rückbau der Atomkraftwerke und höhere Pensionsverpflichtungen aufgrund der historisch niedrigen Zinsen die Kapitaldecke auf mickrige 1,3 Milliarden Euro reduziert. Zu diesem Zeitpunkt betrug die Eigenkapitalquote, also das Verhältnis von Eigenkapital zur Bilanzsumme, gerade noch zwei Prozent.

Mitte März gelang es Eon, durch eine Kapitalerhöhung 1,35 Milliarden Euro frisches Geld einzusammeln und damit die Eigenkapitalausstattung mehr als zu verdoppeln. Dennoch bleibt der Versorger das am schwächsten kapitalisierte Unternehmen im DAX.

Jedes der von uns identifizierten Bilanzrisiken (siehe Tabelle Seite 3) stellt damit eine Bedrohung für das Eigenkapital der Düsseldorfer dar und könnte weitere Abschreibungen oder sogar erneute Kapitalmaßnahmen notwendig machen.

Besonders auffällig sind die hohen Pensionsverpflichtungen des Versorgers. Darunter versteht man die Summe der Rentenansprüche aller Eon-Mitarbeiter. Zwar hat der Konzern 80 Prozent der Pensionsverpflichtungen ausfinanziert und will das Pensionsvermögen um bis zu eine Milliarde Euro erhöhen, doch die anhaltend niedrigen Zinsen machen es allen Unternehmen schwer, ausreichend Rendite zu erwirtschaften, um die Pensionszusagen zu erfüllen.

So musste Eon im ersten Quartal 2017 fast vier Milliarden Euro für Pensionen zurückstellen, wodurch der ohnehin große Schuldenberg weiter wuchs.

Dem Unternehmen bereitet das nach Aussage eines Sprecher keine Sorgen. Schließlich seien erste Zeichen einer Änderung bei der Zinspolitik der Notenbanken sichtbar, heißt es.

Zudem plane das Unternehmen, die Verschuldung mittelfristig um mehr als sechs Milliarden Euro zurückzufahren und dadurch die Bilanz zu stärken. Dabei komme Eon "zügig voran", wie Finanzchef Marc Spieker Anfang Mai bei der Vorlage der Zahlen für die ersten drei Monate des Jahres betonte.