Herr Halver, die Verhandlungen über eine Lösung im Schuldenstreit sind heute Nacht zunächst erfolglos geblieben. Damit spitzt sich die Griechenland-Krise weiter zu. Wie schlimm kann es noch werden?

Noch bevor die Frühlingsknospen sprießen, müssen sich die Kreditgläubiger und Griechenland geeinigt haben. Ansonsten ist das Land pleite und den Griechen geht es dann wirklich schlecht. Dennoch erleben wir im Augenblick wie bei Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern das Hochmauern der Forderungen. Wer sich zuerst auf den anderen zubewegt, hat verloren, da er an Verhandlungsmasse verliert. Neu ist, dass die Konflikte nicht wie früher im stillen Polit-Kämmerlein, sondern verstärkt in der Öffentlichkeit ausgetragen werden. Beide Seiten - es ist ja vor allem eine Auseinandersetzung Deutschland gegen Griechenland - wollen damit ihren jeweiligen Bevölkerungen klar machen, dass sie ihre Interessen vehement vertreten. Abgesehen von denen in Griechenland sind die Finanzmärkte aber nicht im Panikmodus. Sie erwarten einen für Europa typischen Kompromiss der Marke "Was nicht passt, wird passend gemacht". Die nächsten Tage werden aber noch an zur Schau getragener Dramatik zunehmen.

Die neue griechische Regierung fordert mehr Zeit und drängt dabei auf zahlreiche Zugeständnisse, darunter einen Überbrückungskredit, um eine mögliche Staatspleite abzuwenden. Außerdem soll offenbar das Sanierungsziel des Staatshaushalts aufgegeben werden. Statt des ab 2016 anvisierten Primärüberschusses von 4,5 Prozent des BIP soll die Zielmarke auf 1,5 Prozent gesenkt werden. Sollte die EU diesen Forderungen nachkommen?

Ein gewisses Entgegenkommen ist möglich. So könnte man den Schwerpunkt auf Reform- und weniger Sparaktivitäten legen. Aber Radikalforderungen kann man unter normalen Bedingungen nicht nachkommen, da damit die Europäische Stabilitätsunion ad absurdum geführt wird. Der Schulden-Schlendrian wird als Standard festgelegt. Denn wie will man anderen Euro-Ländern etwas verwehren, was man Griechenland bietet.

Das Problem ist, dass sich die anderen Euro-Länder nicht einig sind. In punkto Stabilität stehen die nördlichen Euro-Länder sozusagen dem "Club Med" gegenüber. In Paris und Rom weiß man natürlich, das jede Unterstützung für Griechenland ein Sargnagel für die Reste der eurozonalen Stabilitätskultur ist. Damit ist die Achse Paris, Rom und Athen eine gemeinsame Linie der Ablehnung von Spar- und Reformaktivitäten. Sicherlich wird dieser finanzpolitische Kuschelkurs auf harten Widerstand bei den Nordländern stoßen. Aber die werden früher oder später den Rückzug antreten, weil sie hoffen, damit den eurozonalen Wutbürger bei den nächsten Wahlen besänftigen zu können. Und wer will schon einen Bruch quer durch die Eurozone riskieren, deren Zusammenhalt eher den Charakter einer Erbengemeinschaft hat. Am Ende steht nicht zuletzt deshalb ein fauler Kompromiss, weil ansonsten das Geld der Steuerzahler aus den Gläubigerländern futsch ist. Und das alles, um dem Euro-Frieden entgegenzukommen, obwohl man weiß, dass Griechenland das Euro-Korsett morgen und übermorgen und auch überübermorgen aufgrund fehlender Wettbewerbsfähigkeit nicht aushalten kann.

Die Lex Hellas wird sich über die Eurozone ausbreiten. Bei der Parlamentswahl in Spanien im Herbst wird das Linksbündnis "Podemos" mit den Erfolgen des griechischen Robin Hood gegen den Brüsseler bzw. Berliner Sheriff von Nottingham erfolgreich Wahlkampf machen. Nichts ist so gewaltig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Sparen und Reformieren werden zunehmend abgewählt. Glaubt denn irgendjemand, dass 2017 bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Frankeich bzw. 2018 bei den Parlamentswahlen in Italien der Euro-Stabilitätsgeist wieder aus der Flasche darf? Nein, da bleibt der Stopfen drauf und wird versiegelt.

Auf Seite 2: Wie wahrscheinlich ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone ist

In den vergangenen Wochen ist auch die Diskussion um einen Grexit wieder hochgeschwappt. Auf Sicht von zwölf Monaten: Wie wahrscheinlich ist ein Austritt der Griechen aus der Eurozone?

Ich schätze ihn auf circa 30 Prozent. Wenn die griechische Seite ihre Provokationen nicht einstellt, versucht, die Gegenseite zu erpressen, jeden politischen Anstand wie bei Kesselflickern vermissen lassen, nachhaltig Forderungen stellt, die einseitige Vertragsbrüche zu Lasten der Gläubiger zum Regelfall machen und im schlimmsten Fall den Schulterschluss mit Russland vollzieht - und damit einer gemeinsamen Haltung Europas in der Ukraine-Krise in den Rücken fällt - kommt der Zeitpunkt, wo weiteres Entgegenkommen in Richtung Griechenland einen unakzeptablen und erniedrigenden Gesichts- und Glaubwürdigkeitsverlust für die andere Seite bedeutet.

Man muss verhindern, dass ein verrückt gewordenes, kleines Huhn den ganzen großen Hühnerhof in Unruhe bringt."
Baader Bank-Aktienstratege Robert Halver zum Schuldenstreit zwischen Athen und der Eurozone.


Dann wird Griechenland aus der Eurozone unehrenhaft entlassen. Man muss verhindern, dass ein verrückt gewordenes, kleines Huhn den ganzen großen Hühnerhof in Unruhe bringt. Leider wird dann das griechische Volk, dem meine ganze Sympathie gilt, von diesen politischen Geisterfahrern in Geiselhaft genommen.

Welche Entwicklung erwarten Sie an den Börsen für die kommenden Wochen: Wird die politische Entwicklung in Griechenland sowie der Ukraine die Berichtssaison weiter überlagern?

Bis Klarheit über die weitere Entwicklung herrscht, können die Aktienmärkte die mit positiven Ausblicken versehene Berichtsaison dominieren. Besonders problematisch ist der geopolitische Konflikt mit Russland. Hier kann die EZB nicht helfen. Das müssen die Politiker schaffen, vor allem die europäischen, weil viele US-Politiker jeden Tag massenhaft gute Gelegenheiten verpassen, einfach den Mund zu halten. Mit Diplomatie glänzen die USA derzeit eher nicht.

Sollten die USA auf die fatale Idee kommen, die Ukraine mit Waffen zu beliefern, hätte Putin endlich das Argument, das er so gerne haben wollte: Den Westen und vor allem die USA als Aggressor brandmarken. Bis die ersten US-Waffen in der Ukraine angekommen sind, stehen die Russen in Kiew, und zwar in drei Tagen. Und dann würde die Büchse der Pandora weit aufgemacht. Die Lage würde eskalieren und die Börsen nicht nur verschnupft reagieren.

Wenn der Konflikt jetzt tatsächlich dauerhaft befriedet sein sollte, hätten Frau Merkel und Herr Hollande den Friedensnobelpreis mindestens genauso verdient wie US-Präsident Barack Obama 2009."
Baader Bank-Aktienstratege Robert Halver zur vereinbarten Waffenruhe im Ukraine-Konflikt.
Immerhin haben wir jetzt einen Waffenstillstand, der das grundsätzliche Problem zwischen Russland und dem Westen aber nicht löst, weil unter anderem territoriale Fragen aussen vor geblieben sind. Hoffen wir, dass die stabile Seitenlage länger hält. Wenn das so kommt und der Konflikt jetzt tatsächlich dauerhaft befriedet sein sollte, hätten Frau Merkel und Herr Hollande den Friedensnobelpreis mindestens genauso verdient wie US-Präsident Barack Obama 2009.

Auf Seite 3: Was ein Grexit für die Börsen bedeuten würde

Sollte es zu einem Austritt Griechenlands aus der Eurozone kommen: Was würde das für die Börsen bedeuten: Müssten sich Anleger dann auf einen knallenden Crash einstellen?

Die Finanzmärkte haben sich auch auf das Schlimmste schon eingestellt: Den Grexit. Das Motto könnte lauten "Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende." Natürlich würde man diese Entwicklung nicht begrüßen. Die Börsen würden sicherlich zunächst in Unruhe geraten. Doch erwartet man, dass ein Überschwappen des Krisenvirus auf andere Euro-Schuldenstaaten nicht zuletzt von der EZB verhindert wird. Im Hintergrund wird bereits an Lösungen für den Grexit gearbeitet. An einen Crash glaube ich nicht. Aber Magengrummeln habe ich bei Vorstellung eines Grexit schon.

Was würde ein möglicher Grexit für die Zukunft des Euro bedeuten: Wäre die Gemeinschaftswährung dann überhaupt noch zu retten?

Die Eurozone würde gerettet, allerdings mit dem Preis, dass damit die Stabilitätsunion zukünftig bis auf den letzten Stein geschleift wird. Wir sind dann auf dem unumkehrbaren Weg in die Transferunion oder in den Euro-Länderfinanzausgleich. Aus dieser Nummer, aus diesem Stabilitäts-Strukturbruch kommt Euroland nicht mehr heraus. Man will es ja nicht zu Nachahmeeffekten der griechischen Wahl bei weiteren Wahlen kommen lassen.

Und die EZB?

Sie wird erfolgreich beweisen, dass sie auch bei große Kindern - die Eurozone ist ja in der schwierigen Zeit der Pubertät angekommen - ihrer Aufsicht gerecht wird. Sie finanziert die neue Transferunion, auch wenn aus den Kindern längst Erwachsene geworden sind.

Der Euro würde weiter abwerten. Aber das ist ja die erklärte Absicht der EZB, weil sie damit die eurozonale Exportindustrie stützen möchte.

Wie viele Anleger ärgere auch ich mich über diesen instabilen Euro-Makrokosmos. Aber ändern kann ich ihn nicht. Ich kann nur meinen Anleger-Mikrokosmos stabilisieren und auf Sachkapital setzen. Denn Aktien, Immobilien und Gold werden von der Schuldenunion mit geldpolitischem Segen weiter profitieren. Immerhin ein Trost.


Auf Seite 4: Welche Folgen ein Grexit für Griechenland hätte

Wie schlimm wären die Folgen eines möglichen Grexit für die griechische Wirtschaft und die Bevölkerung auf Sicht von drei bis fünf Jahren?

Das Land wäre mega-pleite. Der Kapitalmarkt würde Griechenland wie eine heiße Kartoffel fallen lassen. Insgesamt ginge es dem Land und seinen Bürgern zunächst noch schlechter als bisher. Denn die Euro-Schulden bleiben ja bestehen. Ob China und Russland dann als Geldgeber einspringen, um Griechenland als geostrategischen Partner zu gewinnen, bleibt abzuwarten. Russland ist finanziell mehr als angeschlagen. Sollte grundsätzlich russisches Geld fließen, wird das Land und seine Bevölkerung Männchen machen müssen. Russland wird westlich orientierte Liberalität sicher nicht unterstützen. Jedes Finanzangebot Russlands ist ein vergiftetes Geschenk. Will Griechenland diesen Pries wirklich zahlen?