Ziemlich abgeschieden liegt die Zentrale der Siemens-Sparte Digital Industries (DI) im Nürnberger Südosten. Das Hauptquartier des Konzerns in München ist weit weg, damit scheinbar auch die Hektik des Tagesgeschäfts eines Unternehmens, das sich gerade vollkommen neu sortiert. Aus seinem Büro im obersten Stock überblickt DI-Chef Klaus Helmrich herbstliche fränkische Wälder - und auch den größten Teil des neuen Siemens-Kerngeschäfts. Denn die Medizintechnik ist bereits abgetrennt, an der Zukunft der Verkehrstechnik wird gearbeitet. Und das Energiegeschäft, bisher der Nukleus des Traditionskonzerns, soll kommendes Jahr samt 27 Milliarden Euro Umsatz und 88 000 Mitarbeitern selbstständig an die Börse gehen.

Siemens ist in Bewegung wie noch nie. Der Elektrotechniker erklärt derweil in Seelenruhe und mit leuchtenden Augen die Finessen digitaler Simulationen. Schnell wird klar, dass Helmrich nicht nur ein findiger Ingenieur ist, der mit seinen Ideen die Industrieproduktion umkrempeln will, sondern auch ein talentierter Verkäufer. Konzernchef Joe Kaeser jedenfalls hat er bereits überzeugt: Der gab Helmrich den Auftrag, für Siemens ­einen Zukunftsmarkt zu erobern. Viele ­Milliarden Euro wurden - bislang erfolgreich - investiert. Im Geschäftsjahr 2018 war der Bereich der größte Gewinnbringer im Konzern. Bis 2023 sollen hier über 7000 weitere Jobs entstehen.

Auch dank der Erkenntnisse, die im spartanisch eingerichteten Chefbüro der DI in Nürnberg reifen, ist das DAX-Unternehmen globale Nummer 1 in der Industriedigitalisierung. €uro am Sonntag sprach mit Helmrich über den digitalen Alltag, so gar nicht alltägliche Verantwortung und unerwartete Dellen in der Gewinnentwicklung der Sparte.

€uro am Sonntag: Wie digitalisiert sind Sie persönlich, kommen Sie auch mal eine Weile ohne Smartphone aus?
Klaus Helmrich: Privat und beruflich bin ich Nutzer wie jeder andere. Man kann sich in unserer Welt ja gar nicht mehr ohne Smartphone bewegen. Aber ich habe mir seit Jahren angewöhnt, am Sonntag Pause zu machen. Dann ruht auch das Smartphone, zumindest beruflich bis etwa 18 Uhr. Das tut mir und meinem privaten Umfeld gut und ebenso den Menschen, die eng mit mir zusammenarbeiten.

Seit April leiten Sie mit Digital Indus­tries den Großteil des Kerngeschäfts von Siemens. Wie gehen Sie mit der Verantwortung für 16 Milliarden Euro Umsatz und etwa 75.000 Mitarbeiter um?
Ich selbst bin ein Mann der Industrie durch und durch. Das heißt auch, dass ich viel Zeit bei Kunden und bei den Menschen im Unternehmen verbringe. Denn nur so kann ich wissen, welche Anforderungen die Branchen haben, in denen unsere Kunden tätig sind. Und auch innerhalb des Unternehmens nützt Ihnen die beste Strategie nichts, wenn Sie sie nicht vermitteln können. Man muss selbst Bestandteil dieser Gruppen sein und man muss die eigene Technologie so weit durchdringen, dass man die richtigen Impulse setzen kann. Nur so kann man seine wirtschaftliche Verantwortung erfüllen, und zwar sowohl gegenüber dem Konzern als auch gegenüber dem Kapitalmarkt.

Siemens räumt der Industriedigitalisierung künftig ein viel stärkeres Gewicht ein. Was haben Investoren davon?
Wir entwickeln den industriellen Kern weiter, aber auch Bereiche wie die ­Medizin- oder die Energietechnik. Der Fokus auf die jeweiligen Märkte wird stärker, zugleich nimmt die Transparenz nach außen und innen zu, der Vergleich zum Wettbewerb wird klarer. Das nützt Investoren, aber auch uns, denn wir wollen in den einzelnen Bereichen die Besten sein.

Über welches Marktvolumen sprechen wir - und was will Siemens davon?
Für Digital Industries geht es global um einen Markt mit etwa 120 Milliarden Euro Umsatz. Über Marktanteile sprechen wir nicht. Aber wir nehmen hier eine weltweit führende Rolle ein.

Was können Sie besser als andere?
Wir bieten unseren Kunden die gesamte Bandbreite der Lösungen für ein digitales Unternehmen, von der Software für die Produktentwicklung bis hin zur Anbindung an Cloud und Internet der Dinge samt der dazugehörenden IT-­Security. Das wird kombiniert mit unserem breiten Automatisierungsportfolio.

Wer kauft diese Technik?
Ob es um die Produktion von Waschmaschinen, von Bier oder Impfstoffen geht: Wir unterstützen Kunden dabei, ihre Produkte und Abläufe zu optimieren. Wir helfen ihnen etwa, die Herstellungsprozesse zu verbessern, indem sie diese erst einmal mit Software simulieren und optimieren, bevor die Produktion wirklich startet. Das hat große Auswirkungen darauf, wie gut und wie schnell die Produkte hergestellt werden.

Software steht im Fokus?
Digitalisierung heißt in erster Linie: ­Einsatz von Software. Mit unseren Lösungen können unsere Kunden per Software digitale Zwillinge von allen Bereichen anfertigen: vom Produkt, von der Produktion und auch davon, wie das Produkt beim Endabnehmer eingesetzt wird. So können unsere Kunden besser werden und gleichzeitig Kosten sparen.

Was sind denn digitale Zwillinge?
Zum Beispiel können Kunden aus der ­Simulation eines neu entwickelten Produkts erkennen, was sie in den Produktionsabläufen dafür verbessern müssen - umgekehrt erkennt man, wenn man die Produktionsabläufe simuliert, was man vielleicht am Produktdesign optimieren kann. Das alles findet aber nicht real statt, wo es viel Geld und Material kostet, sondern digital, gewissermaßen als Zwilling der realen Welt. Dadurch und in den realen Produktionsanlagen entsteht eine Fülle von Daten, etwa Maschinen- oder Produktparameter, Fehlerquoten und vieles mehr. Diese Daten können unsere Kunden dann mit künstlicher Intelligenz analysieren. Das führt zu weiteren Verbesserungen.

Wird Siemens so womöglich zur Datenkrake, zu einem Google der Industrie?
Der Punkt ist sensibel. Nein, wir saugen keine Daten ab, sie gehören ganz klar unseren Kunden. Allein sie bestimmen, wie wir ihnen helfen. Wenn Datenanalyse erwünscht ist, dann bieten wir das an. Anfänglich hatten viele unserer Kunden hier große Bedenken. Inzwischen aber wird der Nutzen der Indus­trie 4.0 und der Digitalisierung auch im deutschen Mittelstand verstanden. Und an Themen wie Cloud oder das Internet der Dinge trauen sich immer mehr heran. Für all das ist aber höchste IT-Sicherheit grundlegende Voraussetzung.

Wie überzeugen Sie einen Mittelständler, der im Alltag gar nicht dazu kommt, seinen Betrieb zu digitalisieren?
Ein guter Kunde, ein Anlagenbauer, sagte mir, er hätte gar keine Zeit für Schulungen, weil er jeden individuellen Kundenwunsch sozusagen händisch abarbeite. Wir haben ihm angeboten, gleich am nächsten Samstag loszulegen - wenn er bereit ist, uns die Pizza zu spendieren. Das hat ihn ziemlich überrascht. Dann haben wir ihm erklärt, wie er seine Produktion flexibilisiert und so Ressourcen freisetzt. Inzwischen zeigt er seinen Kunden sogar ein 3-D-Bild der Anlage, das aus unserem System stammt, und erklärt ihnen damit, welche Wünsche machbar sind.

Was kostet denn der Spaß einen Einsteiger - Pizzas werden kaum reichen?
Ich kann Ihnen eine grobe Faustregel geben: Innerhalb von drei bis fünf Jahren hat sich die Investition in aller Regel amortisiert und schafft Mehrwert.

Wie wollen Sie sich gegen große US-­Technologiekonzerne wie Microsoft oder Amazon wehren, die Ihren Milliardenmarkt im Blick haben?
Diese Unternehmen haben definitiv eine hohe Kompetenz bei Software und bei der Datenanalyse. Wir aber haben ein sehr tiefes industrielles Verständnis und Branchenwissen. Und das ist hier entscheidend. Wenn Sie nicht verstehen, wie die Fertigung eines realen Produktes exakt läuft, wie etwa eine Presse zu optimieren ist, dann können Sie nur sehr schwer einen Mehrwert für die Kunden erzeugen.

Sie wollen viele Softwareentwickler einstellen. Wie überzeugen Sie umworbene Spezialisten, die auch bei Apple oder Microsoft anfangen können?
Am Ende des Tages ist das die Entscheidung jedes Einzelnen. Aber Siemens bietet jungen Leuten jede Menge Entwicklungspotenzial, sei es in der Zusammenarbeit mit Industriespezialisten aus unserem Hause oder durch den direkten Kundenkontakt.

Vor allem für Software hat Siemens in den vergangenen Jahren rund zehn ­Milliarden Dollar ausgegeben. Bleiben Akquisitionen Teil der Strategie?
Wir waren gerade im Bereich Edge Computing aktiv. Hier geht es um hohe Rechnerleistungen für die Datenanalyse vor Ort in der Produktion. Unter anderem erhöht das die Datensicherheit, weil Sie nicht alle Daten in die Cloud senden müssen, um sie zu verarbeiten. Das ist nur ein Beispiel, wie wir unser Portfolio um Technologien ergänzen. Diese Vorgehensweise verfolgen wir auch weiterhin in unserer Strategie.

Wie groß ist Ihr Softwareanteil am ­Umsatz und wohin geht die Reise?
Derzeit liegt der Anteil bei etwa 25 Prozent. Er wächst aber überproportional. Viele Kunden investieren heute in Anwendungssoftware. Ein Grund: Die Produktwelt wird immer individualisierter. Das fängt beim Turnschuh an, geht über den Genuss unterschiedlicher Kaffees in Pads bis zur maßgeschneiderten ­Produktion von Autos oder Industrie­gütern. Dieser Trend lässt den Markt für unsere Produkte wachsen, denn die komplexere Produktion erfordert Digitalisierung. Oder nehmen Sie technologische Verbesserungen durch den 3-D-Druck: Wir fertigen etwa eine Flugzeugnase für einen Luftfahrtkunden im 3-D-Verfahren. Das ist zwar etwas teurer, aber das Produkt ist leichter und spart so über Tausende von Flugmeilen hinweg eine Menge Kerosin.

Die Automobilindustrie ist für DI sehr wichtig. Zulieferer Continental warnte gerade, in den nächsten Jahren gebe es hier kein Wachstum. Das klingt düster.
Die Autohersteller haben in den vergangenen Jahren sehr viel in ihre konven­tionellen Fertigungskapazitäten investiert. Diese sind inzwischen sicher groß genug. Insofern sind auch wir als Zulieferer in diesem Bereich betroffen. Der Wandel erzeugt aber auch neue Investitionen, denn in der Autoindustrie geht es jetzt um neue Technologien, um auto­nomes Fahren, elektronische Ausrüstungen, Batterieantriebe. Hier sind wir hervorragend positioniert: Wir haben beispielsweise weltweit die meisten Batteriefabriken automatisiert. Überdies bieten Zeiten einer wirtschaftlichen ­Abkühlung dem Management die Gelegenheit, über die nächsten Schritte und Investitionen für neue Innovationen nachzudenken. Das ist im Boom oftmals nicht möglich. Und das ist eine Chance für uns.

Von April bis Juni aber sank der Umsatz von DI, der Gewinn brach ein - auch wegen der Schwäche der Automobilindustrie. Ist das noch ein konjunkturelles Problem oder wird es ein strukturelles?
Wir haben kein strukturelles Problem. Wir konzentrieren uns seit geraumer Zeit auf die Getränke- und Lebensmittel­industrie und gewinnen hier kontinuierlich Anteile hinzu. Wir wachsen auch in den Bereichen Pharma oder Chemie und vergrößern hier Stück für Stück unseren Anteil. Zudem sehen wir etwa auf Messen im direkten Gespräch mit Kunden, dass unsere Produkte sehr gut ankommen. Wir bieten keine Lösungen an, die fünf Jahre alt sind. Unser Port­folio ist topmodern. Wenn ein Kunde Richtung Innovation denkt, erhalten wir auch seine Einladung, unser Port­folio vorzustellen.

Sie müssen auch Kosten senken, um die Delle auszugleichen. Wie geht es voran?
Wir wollen 160 Millionen Euro bis 2021 einsparen. Wir erreichen das auch dadurch, dass wir die Digitalisierung unter Einsatz unserer eigenen Produkte noch stärker vorantreiben. Ein Beispiel: In unserer Leiterplattenfertigung hätten wir einen Prüfautomaten für eine halbe Million Euro kaufen müssen. Das haben wir nicht getan, sondern setzen jetzt auf Edge-Technologie und künstliche Intelligenz und erweitern so unsere Prüfkapazitäten.

Die Industrieautomatisierung war stets das konjunkturell sensibelste Geschäft von Siemens, bleibt das so?
Wir arbeiten hart daran, dass die zyklischen Ausschläge im Geschäft kleiner werden. Wir werden sie nicht vermeiden können, aber glätten.

DI soll um 25 Prozent schneller wachsen als der Markt. Schaffen Sie das?
Das schaffen wir, auch im laufenden ­Geschäftsjahr. Da haben wir uns klar positioniert.

Die Zielspanne für die operative Gewinnmarge ist die höchste bei Siemens. Von April bis Juni haben Sie das Ziel deutlich verfehlt. Halten Sie hier Wort?
Wir haben immer für Digital Indus­tries gesagt, dass wir im Geschäftsjahr 2018/19 im Margenband bleiben werden. Lassen Sie uns doch mal die kommenden Ergebnisse abwarten.

Kurzvita

Gewiefter Entwickler
Klaus Helmrich ist ein waschechtes Hausgewächs. Der 61-Jährige startete nach seinem Elek­trotechnikstudium als Entwicklungs­ingenieur in der Energiesparte bei Siemens. Sodann führte seine Karriere über den Bereich Bauelemente in die Automatisierungstechnik, wo Helmrich 1995 Entwicklungschef wurde. Seit 2011 ist er Vorstandsmitglied von Siemens, seit April auch Chef der neuen Sparte Digital Industries.

Siemens

Kerngeschäft konzentriert
Das Stammgeschäft besteht jetzt aus den Bereichen DI (Digital Industries, also Automatisierungs- und Prozess­technik) sowie SI (Smart Infrastructure, also Gebäudetechnik und smarte Netze). DI ist mit rund 16 Milliarden Euro Umsatz größer als SI (rund 14 Milliarden Euro Umsatz) und fährt deutlich höhere Gewinnmargen ein.