Wir nehmen unser Smartphone zur Hand und identifizieren uns mit Face-ID. Wir unterhalten uns mit Chatbots, fragen Alexa um Rat, lassen uns von einem Algorithmus vorschlagen, welche Serien wir bei Netflix anschauen wollen, nutzen Telematiktarife und warten sehnsüchtig auf die ersten vollautonomen Autos: Künstliche Intelligenz (KI) ist bereits heute alltäglich. Und auch in der Versicherungsbranche hat sie längst Einzug gehalten. Die Möglichkeiten, die sie eröffnet, sind noch längst nicht ausgeschöpft.

Die Versicherungsbranche ist geradezu prädestiniert für den Einsatz von KI. Warum? Weil das Auswerten riesiger Mengen von Daten zur Bewertung von Risiken von jeher zum Kerngeschäft ­gehört: von meteorologischen Daten bis hin zu Unfallstatistiken. Zusammen mit den Daten der Versicherten können die Maschinen dann daraus immer besser lernen, welche Merkmale Treiber für die Risiken sind, und aus den großen Datenmengen die richtige Prämie ermitteln. Daher heißt es oft, Daten seien das Erdöl des 21. Jahrhunderts.

Auch Schadenfälle können maschinell reguliert werden


Hinzu kommt, dass sich in der Versicherungsbranche zahlreiche Prozesse immer wiederholen - und sich damit gut für eine Automatisierung eignen. Sprich: Der Kunde reicht eine Rechnung bei uns ein. Wir prüfen die Ansprüche und überweisen das Geld. Diese Aufgabe kann in vielen Fällen auch eine Maschine übernehmen. Auch Schadenfälle können maschinell reguliert werden - etwa bei einem Blechschaden am Auto. Fotos von einer Delle und Kratzern im Lack reichen der KI, um auf den Cent genau zu berechnen, wie hoch der Schaden ist. Dies geschieht in vielen Fällen schon heute. Das Versicherungs-Start-up Lemonade hat einen Weltrekord aufgestellt, als es (dank KI) innerhalb von drei Sekunden einen Schadenfall abschließend bearbeitete.

Immer wieder werden Befürchtungen laut, dass die Digitalisierung im Allgemeinen und KI im Besonderen Arbeitsplätze vernichten. Diese Ansicht teile ich nicht. Ich bin der festen Überzeugung, dass Digitalisierung kein Jobkiller ist. Die Frage der Zukunft lautet nicht "Geht uns die Arbeit aus?", sondern "Wo kommen die benötigten Fachkräfte her?". Durch Digitalisierung fallen unzweifelhaft manche Tätigkeiten - und damit Arbeitsplätze - weg. Es herrscht jedoch großer Bedarf an anderen Qualifikationen. Gesucht sind beispielsweise Datenanalysten und ­Entwickler. Entscheidend für den ­Arbeitsmarkt ist die Qualifikation der Beschäftigten.

Neue Datentechnik mit traditionellen Werten verbinden


Ich teile die Einschätzungen und Analysen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Demnach werden bis 2025 etwa 1,3 Millionen, bis 2035 vier Millionen Arbeitsplätze den neuen Technologien zum Opfer fallen. Doch gleichzeitig werden bis 2025 etwa 2,1 Millionen, bis 2035 sogar 3,3 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen. Die vierte industrielle Revolution - die Digitalisierung - dürfte dem Muster der vorangegangenen technischen Umwälzungen folgen: massive Veränderungen in der Zusammensetzung der Beschäftigung, aber in Summe keine Beschäftigungsverluste. Mit Blick auf das rückläufige Bevölkerungswachstum ist sogar ein Anstieg der Beschäftigungsquote wahrscheinlich.

Kollege Mensch und Kollege Maschine: Wie gut arbeiten sie zusammen? Das ist eine Frage, die viele Menschen bewegt. KI ist für die Versicherungsbranche eine riesige Chance - solange man neueste Technik mit traditionellen Werten verbindet. Denn Versicherung ist immer auch Vertrauens­sache. Es geht um Sicherheit, die Absicherung von Risiken und um Vorsorge für das Alter. Das sind Themen, die Menschen bewegen. Die Kunden wünschen sich schnelle, ­effiziente Prozesse. Und hier hilft KI. Doch die Kunden wünschen sich auch empathische Gesprächspartner, die sie beraten und ihnen im Schadenfall zur Seite stehen. Daran ändert sich auch in der digitalen Welt nichts. Der Kollege Maschine unterstützt seinen Kollegen Mensch dabei, für andere Menschen da zu sein.

Kurzvita

Klaus-Peter Röhler
Vorstandsvorsitzender der Allianz Deutschland AG
Der promovierte Jurist Röhler startete seine berufliche Laufbahn 1996 bei der Allianz. Ab 2012 war er Vorsitzender der Geschäftsleitung der Allianz Suisse, seit 2014 Chief Executive Officer (CEO) der Allianz Italia SpA., 2018 wechselte er auf den Spitzenposten in Deutschland. Die Allianz Deutschland AG ist in der Schaden- und ­Unfallversicherung, der Lebensversicherung ­sowie der Krankenver­sicherung tätig.