Stünde nicht Horst Seehofer an der Spitze des Bundesbauministeriums, sondern Barbara Ettinger-Brinckmann, rangierte es im Kreis der Ministerien vermutlich nicht mehr unter ferner liefen. Die Präsi­dentin der Bundesarchitektenkammer würde den 16 Bundesländern Dampf machen, sich auf eine einheitliche Landesbauordnung zu verständigen, um das Dickicht der 20.000 Bauvorschriften zu lichten. Sie würde nicht nur "bauen, bauen, bauen" rufen, sondern eine ganze Reihe intelligenter Wege für mehr Wohnungen einschlagen.

"Und ich würde generell Baukultur einfordern", sagt sie im Interview mit €uro am Sonntag. Damit meint die Architektin aus Leidenschaft unter anderem, beim Bauen stärker auf Ästhetik zu achten. Ein Gespräch über den Konflikt zwischen Schönheit und Rentabilität bei Häusern, Wildschweingebiete, Pseudovillenwohnträume und ihre Wohn­eigen­tums-Idee "Jung kauft alt".

€uro am Sonntag: Frau Ettinger-Brinckmann, warum können die Deutschen nicht mehr schön bauen, sondern nur noch Würfelhäuser fürs Wohnen und stereotype Einkaufszentren?
Barbara Ettinger-Brinckmann: Natürlich können die Architekten in Deutschland noch schön bauen. Hierfür kann man viele eindrucksvolle Beispiele finden. Man muss uns nur auch schön bauen lassen. Dazu brauchen wir die Bauherren. In der Tat gibt es eine gewisse Trivialisierung beim Bau, vor allem bei gewerblich genutzten Immobilien. Letztlich ist das Bauen immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Man kann also nur so gut und so schön bauen, wie es die Gesellschaft zulässt.

Die Gesellschaft, das sind zum Beispiel Investoren, die schnell und günstig bauen und dann teuer verkaufen wollen. Ist das der Grund für architekto­nische Albträume wie die Europaallee in Frankfurt am Main, die so mächtig, seelenlos und gruselig aussieht, dass sie von vielen Stalinallee genannt wird?
Die Stalinallee in Berlin wird heute übrigens wegen ihrer städtebaulichen Qualität durchaus geschätzt … Doch sicher ist ein Neubau heutzutage oft schlicht ein Renditeobjekt, um schnell Geld zu verdienen. Was auch heißt, dass es den klassischen Bauherrn, der für sich nach seinen Vorstellungen baut und sein Haus langfristig im Bestand hält, immer seltener gibt.

Zur Klarstellung: Sie meinen nicht den Häuslebauer, der seinen Traum vom ­Eigenheim verwirklicht, sondern Bauträger und Investoren von Mehrfamilienhäusern, Bürobauten und Einkaufszentren, die unsere Städte prägen?
Ja, ich meine Investoren, die die Lebenszykluskosten guter Architektur nicht im Blick haben, weil sie eine Immobilie als Renditebringer nur wenige Jahre im Portfolio halten. Gute Architektur -oder anders gesagt, schöne Häuser und Bauwerke, gleich welcher Größe - hat bei Nutzern und in der Gesellschaft eine viel größere Akzeptanz als ausdruckslose Gebäude.

Also doch auch ein Thema für diejenigen, die sich ein Haus bauen wollen?
Mich sorgt, dass sich viele Privatpersonen ein Haus nicht mehr nach eigenen Vorstellungen bauen. Ich würde sagen, vielleicht zehn oder 15 Prozent der ­Eigenheime werden noch individuell mit einem Architekten gebaut. Die meisten, die ihr Geld in ein Eigenheim stecken, erwerben standardisierte Häuser oder wählen Fertighäuser, die häufig auf viel zu kleinen Grundstücken stehen. Da werden dann irgendwelche Pseudo­villenwohnträume verwirklicht, die oft nicht einmal eine Generation überstehen, ganz zu schweigen von der leider oftmals unpassenden städtebaulichen Anmutung.

Sie meinen, die sind nichts zum Anschauen oder generell für die Sinne.
Ja, so in etwa.

Standardisierte Häuser könnten immerhin dafür sorgen, dass sie zueinander passen.
Theoretisch ja, aber trotz der Typenhäuser entsteht an vielen Orten ein völliges architektonisches Durcheinander und kein wirkliches Quartier. Wir Architekten sprechen dann von Wildschweingebieten, weil in solchen Stadtteilen ein totales gestalterisches Chaos herrscht.

Klingt ganz so, als reichten die 20.000 Bauvorschriften noch nicht, über die ­allenthalben geklagt wird. Braucht es noch ein paar mehr, um das Bauen ästhetischer zu machen und das zu überwinden, was "Die Zeit" unlängst Kistizismus nannte?
Wie so oft geht es nicht um mehr oder strengere Vorschriften, sondern darum, das bestehende rechtliche Instrumentarium clever einzusetzen. Kommunen haben zwar die Möglichkeit, Gestaltungsregeln aufzustellen, aber sie müssen das nicht. Viele trauen sich gar nicht erst, denn so etwas führt meist zu enormem Widerstand bei Bauherren. Die sagen dann, ihr Bauprojekt sei ihre Sache, sie bezahlten dafür und könnten dann auch alles selbst bestimmen.

Was sollten Kommunen denn vorgeben, um Bauherren zu mehr Ästhetik ­anzuhalten, also das, was Sie Baukultur nennen?
Baukultur ist das richtige Stichwort, aber es geht dabei um sehr viel mehr als Ästhetik. Es geht auch um die Prozesse, wie Bauwerke beauftragt, wie sie geplant und gebaut und wie sie betrieben werden. Also letztlich darum, wie unsere Planungsleistungen auf die Gesellschaft wirken. Was die Ästhetik angeht, wäre schon viel gewonnen, wenn das Prinzip beherzigt würde, dass sich jedes Haus in sein Umfeld einfügen muss. Es sollte für sich schön sein, aber auch die Umgebung aufwerten und den Freiraum mit im Blick haben.

Ein Haus ist also gar nicht nur reine ­Privatsache?
Das ist meine Überzeugung. Bauen ist nie nur privat. Es ist immer öffentlich. Zumindest die Fassade, die sich zur Straße hin öffnet. Ein Bauherr muss sich immer bewusst sein, dass die Außenwände seines Hauses die Innenräume des Außenraums sind. Jeder, der vorbeigeht, ist dem Gebäude zwangsläufig ausgesetzt. Vielen Gebäuden täte mehr Quartiersbezug sehr gut. Und die Kommunen sollten sich ein baukulturelles Leitbild geben. Dazu gehören gestalterische Leitplanken. Wir brauchen nach meiner Überzeugung so etwas wie ­einen Knigge fürs Bauen.

Für viele ist entscheidend, sich überhaupt noch ein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung leisten zu können. Da steht der Sinn in der Praxis nicht primär nach Ästhetik und dem Blick darauf, gut in die Umgebung zu passen, sondern nach Bezahlbarkeit.
Ja, dieses Missverständnis kläre ich immer wieder gern auf, denn gute Architektur ist nicht automatisch teurer als schlechte. Gute Proportionen kosten nicht einen Cent mehr als schlechte, sondern sie erhöhen regelmäßig sogar den Wert des Gebäudes. Gutes Bauen ist das Ergebnis einer sorgfältigen Planung. Ich kann auch mit einem begrenzten Budget eine hervorragende Architekturqualität herstellen. Wenn ich als Architektin das Budget eines Bauherrn kenne, dann muss ich ihm vielleicht mal sagen, ein bisschen mit den Wohnflächenansprüchen runterzugehen. Neben Grund und Boden ist nämlich die Nutzfläche eines Gebäudes der Hauptkostenfaktor. Jeder Quadratmeter mehr macht es teurer.

Was kostet ein Architekt?
Wir sprechen da in der Regel von etwa zehn Prozent der Bauwerks- und technischen Kosten. Also ohne Grundstück, Erschließung, Außenanlagen und Möblierung. Ich empfehle bei größeren Bauvorhaben, also etwa auch bei Mehrfamilienhäusern, immer einen Architektenwettbewerb. Ein solcher ermöglicht es, die beste und wirtschaftlichste Lösung auszusuchen. In jedem Fall warne ich davor, an der Planung zu sparen. Bei einer schlechten Planung kommt unterm Strich womöglich das teuerste Haus heraus. Es gibt eine wissenschaftliche Untersuchung, die zum Ergebnis kommt, dass ein Architektenwettbewerb am Ende durchschnittlich zehn Prozent der Baukosten einspart.

Haben Sie neben weniger Quadratmetern noch einen Vorschlag, wie Bauen günstiger werden könnte?
Ein Beispiel: Unser Büro hat in der Kasseler Innenstadt gerade ein Haus mit 40 Wohnungen gebaut. Trotz bestem Anschluss an die Straßenbahn mussten wir für jede Wohnung 1,5 Stellplätze nachweisen. Das hieß in dem Fall: Wir mussten eine zweigeschossige Tiefgarage einplanen. Das kostet sehr viel Geld. Mein Vorschlag: Die Kommunen, die über ­einen guten Nahverkehr verfügen, sollten auf den Nachweis von Stellplätzen verzichten. Und, um noch einen Schritt weiterzugehen, sollten sie den Bauherren auferlegen, anstelle von Stellplätzen ein Dauer­ticket für den öffentlichen Personennahverkehr zu kaufen. So etwas wird bislang oft noch als netter, ­naiver Vorschlag belächelt. Aber ich finde, das ist ein sehr vernünftiger Vorschlag, der das Bauen deutlich günstiger machen würde und obendrein zur Lebensqualität der Städte beitrüge.

Die Bundesregierung setzt gegen immer weiter steigende Wohnungspreise in den angesagten Städten auf die Losung "Bauen, bauen, bauen". Das Ziel sind 375.000 neue Wohnungen im Jahr. Werden die tatsächlich gebraucht ?
Das Ziel der Regierung sind in der Tat 1,5 Millionen neue Wohnungen in der laufenden Legislaturperiode. Andererseits wissen wir, dass rund zwei Millionen Wohnungen leer stehen. Von denen sollten wir möglichst viele erschließen und nutzen, statt nur an Neubau zu denken - allein schon aus ökologischen Gründen, denn Neubau bedeutet in der Regel auch immer Versiegelung von Flächen. Zudem steckt im Gebäudebestand viel sogenannte graue Energie, also Energie, die für den Bau eingesetzt wurde. Es wäre also auch mit Blick auf den Klimaschutz sinnvoll, die leer stehenden Gebäude in möglichst vielen Fällen zu nutzen, statt immer nur bauen, bauen, bauen zu rufen.

Was häufig schwierig sein könnte, weil die Häuser weit weg von den begehrten Groß- und Universitätsstädten stehen - von Hürden wie ungeklärten Besitzverhältnissen, Sanierungsbedarf und Altlasten mal ganz abgesehen.
Klar, die leer stehenden Häuser stehen auch dort, wo sie derzeit keiner braucht. Aber es gibt auch viel Leerstand im Umfeld von großen Städten. Ich plädiere dafür, diese Bestände in den Blick zu nehmen und dadurch attraktiv zu machen, dass sie gut an das jeweilige öffentliche Nahverkehrssystem angeschlossen werden. Das wäre eine sinnvolle ­Ergänzung für mehr Wohnraum - über all die anderen Möglichkeiten wie Dachaufstockungen und Umnutzungen von Büros in den Städten selbst hinaus.

Wer soll die leer stehenden Häuser wiederbeleben?
Es könnte zum Beispiel ein Programm "Jung kauft alt" geben. Damit könnten gleich mehrere Ziele erreicht werden. Die angespannten Wohnungsmärkte würden entlastet und junge Leute könnten sich mit solchen alten Häusern leichter Wohneigentum leisten, weil sie viel günstiger sind als Neubauten mit dem neuesten Energiestandard. Obendrein gäbe es die Chance, dass die jungen Eigentümer ihr Starter-­Home in den Folgejahren langsam ausbauen. Die älteren Gebäude würden auf diese Weise - am besten flankiert mit entsprechenden Förderprogrammen - Schritt für Schritt energetisch saniert. Das könnte dazu beitragen, die Klimaschutzziele zu erreichen. Das wird nicht gelingen, wenn wir nicht an den Gebäudebestand gehen.

Halten Sie das offizielle Ziel der Bundesregierung, bis 2050 einen klimaneutralen Gebäudebestand zu haben, für realistisch?
Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass das gelingen wird. Es sind bis dahin ja nur noch gut 30 Jahre. Wir haben in Deutschland weit mehr als 80 Prozent der Gebäude, die nicht mal dem heutigen Energiesparstandard entsprechen - von Klimaneutralität ganz zu schweigen. Zugleich haben wir eine Sanierungsquote bei Gebäuden von nicht einmal einem Prozent im Jahr. Das heißt, wenn diese Quote nicht massiv gesteigert wird, ist das Ziel der Klimaneutralität rein rechnerisch nicht zu erreichen.

Sie sind seit 1980 freischaffende Architektin, also Freiberuflerin. Wie haben Sie fürs Alter vorgesorgt?
Ich bin nach dem Motto vorgegangen: nicht alle Eier in einen Korb. Das heißt, ich habe in mein berufsständisches Versorgungswerk eingezahlt, in die eine oder andere Immobilie investiert, habe mir ein kleines Wohneigentum erarbeitet und ich halte in überschaubarem Umfang Wertpapiere.

Was davon lief am besten?
Es ist bislang im Wesentlichen alles sehr gut gelaufen.

Kein Ausfall? Kein Ärger mit einer Immobilie? Keine Mieter, die nicht zahlen?
Nein. Wir haben auch unser Bürohaus selbst gebaut. Sein Wert hat sich gut entwickelt. Bei den Wert­papieren ist es natürlich immer so, dass die Kurse schwanken. Da muss man eben Ruhe bewahren.

Kurzvita

Präsidentin seit 2013
Barbara Ettinger-Brinckmann kam im September 1950 im Rheinland auf die Welt. Sie studierte an der Universität Stuttgart Architektur und arbeitet seit 1980 als freischaffende Architektin. Seit 1993 ist sie Gesellschafterin des von ihr gegründeten Büros ANP - Architektur und Nutzungsplanung in Kassel. 2013 wurde sie zur Präsidentin der Bundesarchitektenkammer gewählt.

ADS am Bau

Architektur ohne Marotten
Wenn ein Architekt nur an das von ihm geplante Haus denkt, greift das viel zu kurz, sagt Barbara Ettinger-­Brinckmann. "Ein Kollege sagte neulich etwas überspitzt, beim Bauen sollten nicht so viele Aufmerksamkeits-­Defizit-Syndrome (ADS) ausgelebt werden. Da ist was dran. Vielen Gebäuden täte etwas mehr Bescheidenheit ganz gut."