Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass das Rennen um die Nachfolge von Mario Draghi als Präsident der Europäischen Zentralbank den Geschmack der anstehenden Endrunde des Eurovision Song Contest angenommen hat. Die Regierungen wollen, dass ein Kandidat aus ihrem Land gewinnt, weil sie das gut aussehen lässt, und nicht, weil ein derartiger Kandidat die EZB-Politik zwangsläufig verbessern würde. Ein Merkmal dieses Bestallungsverfahrens dürfte fast mit Sicherheit eine Abstimmung in Blöcken sein, bei der sich die nördlichen und südlichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gegenüberstehen. Und absurderweise argumentieren einige Kommentatoren, dass jetzt ihr Land als Gewinner an der Reihe sei.

Dies ist eindeutig der falsche Ansatz. Stattdessen sollten sich die EU-Mitgliedsstaaten fragen, welche Kriterien ein Kandidat erfüllen muss, um ein effektiver EZB-Präsident zu sein, und dann nach der Person suchen, die diese Kriterien am besten erfüllt. Drei Anforderungen ragen dabei heraus.

Notenbanker müssen schnell und entschlossen handeln


Zunächst einmal muss der Präsident ein Mannschaftsspieler sein. Jene Journalisten und Kommentatoren, die mit der unkonventionellen Politik der Bank unter Draghi nicht einverstanden waren, vergessen häufig, dass der EZB-Präsident nicht die politische Linie festlegt, sondern vielmehr bei den Sitzungen des EZB-Rats, auf denen die Entscheidungen darüber getroffen werden, den Vorsitz führt. Obwohl sich diese Kritiker zweifellos wünschen, dass der neue ­Präsident mit der Abrissbirne an die EZB-Entscheidungen des vergangenen Jahrzehnts herangeht, gibt es keine Hinweise darauf, dass die übrigen Ratsmitglieder das zulassen werden. Zweitens braucht der EZB-Präsident einen soliden Hintergrund in Ökonomie.

Manche mögen argumentieren, dass die Festlegung der Geldpolitik genau wie das Fliegen eines Passagierflugzeugs nicht schwierig sei. Das mag zu normalen Zeiten stimmen. Doch in einer Krise, in der vorherrschende wirtschaftliche Konzepte - wie die von der Phillips-Kurve postulierte inverse Beziehung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit - häufig versagen und Lösungen aus dem Lehrbuch nicht mehr funktionieren, liegen die Dinge anders. Und weil die Unsicherheit dann in der Regel sprunghaft zunimmt, müssen Notenbanken schnell und entschlossen handeln, um eine erwartungsbedingte Verfestigung der Probleme zu verhindern.

Genau wie die Fluggäste sich einen erfahrenen Piloten wünschen, wenn ihr Flugzeug ein Problem entwickelt, erfordert eine Wirtschafts- oder Finanzkrise einen Notenbanker mit klarer Auffassung davon, was zu tun ist, und dem Selbstbewusstsein, entschlossen zu handeln. Dies wiederum erfordert ein Verständnis der möglicherweise auftretenden Probleme aus erster Hand. Ein Grund, warum die US Federal Reserve nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 so rasch und wirksam handelte, war, dass Notenbankchef Ben Bernanke einen Großteil seiner Karriere als Wirtschaftsprofessor mit dem Studium der während der Großen Depression gemachten Fehler zugebracht hatte.

Drittens muss der neue EZB-Präsident die Vielfalt der Eurozone widerspiegeln. Es sollte die am besten geeignete Person ernannt werden, und kein EU-Mitgliedsstaat hat ein Monopol auf gute Kandidaten. Aus Gründen der Legitimität sollte die Präsidentschaft im Idealfall zwischen großen und kleinen Ländern und zwischen Nord- und Südeuropa alternieren. Insofern ist zu erwarten, dass die Entscheidung über den nächsten EZB-Präsidenten durch die Wahl eines Südeuropäers aus einem großen Land zum Vizepräsidenten der Bank im letzten Jahr beeinflusst werden dürfte.

Zu guter Letzt wäre zu hoffen, dass zu den wichtigsten Bewerbern auf die Position auch Frauen gehörten. Doch sofern nicht die geschäftsführende Direktorin des IWF Christine Lagarde ihren Hut in den Ring wirft, wird es möglicherweise keine aussichtsreichen Kandidatinnen geben. Das wäre zutiefst bedauernswert und würde nicht zum Grundtenor unserer Zeit passen.

Copyright: Project Syndicate

Kurzvita

Stefan Gerlach
Chefökonom der EFG Bank
Stefan Gerlach ist ­gebürtiger Schwede. Zwischen 2011 und 2015 hatte der Chef­ökonom der EFG Bank in Zürich die Position des Vizepräsidenten der irischen Zentralbank inne. Davor war Gerlach Inhaber der Professur für Geldtheorie und Geldpolitik am Institute for Monetary and Financial Stability (IMFS) an der Goethe- Universität Frankfurt am Main. Zwischen 1992 und 2001 arbeitete er für die Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel.