Damoklesschwert Lockdown


Die Zahl der Neuinfektionen nimmt weltweit rasant zu. Mittlerweile werden wieder ganze Länder wie Irland in Quarantäne versetzt. Auch in Deutschland - wie im Berchtesgadener Land - wurden bereits Ausgangssperren verhängt. Mit einer Entspannung ist vorerst nicht zu rechnen.

Niederschlag findet diese Entwicklung auch bei den Corona-Lockerungsindices. Sie liefern anhand von mobilen Daten der Google COVID-19 Community Mobility Reports Bewegungstrends im Einzelhandel, in Lebensmittelgeschäften, Apotheken und am Arbeitsplatz. So sind je nach Land wirtschaftliche Folgen der Eindämmungs- bzw. Lockerungsmaßnahmen erkennbar. Zuletzt sind sie im Trend wieder gefallen.

Bereits jetzt neigen die Sentix Konjunkturerwartungen in allen wesentlichen Wirtschaftsregionen für die nächsten sechs Monate nach einem fulminanten V-förmigen Verlauf zur Lethargie.

Und auch in den USA wachsen die Wirtschafts-Bäume nicht in den Himmel. Nach deutlicher Entspannung verharren die Erstanträge auf Arbeitslosenhilfe ebenso auf vergleichsweise hohem Niveau wie die Rezessionswahrscheinlichkeit im konsumlastigen Amerika. Offenbar hat Amerika ein zweites Konjunkturprogramm bitter nötig.

Zunehmende große Lockdowns würden eine W-artige Weltwirtschaftsentwicklung nahelegen mit allen auch sozialen Problemen. Dies legen bereits die von der Citigroup berechneten ökonomischen Überraschungs-Indices der Länder nahe, die deutlich "unterraschen", also nachgeben. Sie messen die Abweichung der realen Konjunkturdaten von den von Volkswirten geschätzten.

Um Lockdowns zu verhindern, muss die deutsche Politik für landesweit einheitliche und einfache Corona-Regeln wie die beim Spiel "Mensch ärgere dich nicht" sorgen. Chaotische Spielregeln verwirren nur. Daneben müssen sie einheitlich angewendet und nicht zuletzt bei Verstößen ebenso einheitlich geahndet werden. Wer sich coronalen Schutzmaßnahmen verweigert und damit mitverantwortlich für hohe Reproduktionsraten und Quarantänen von Firmen und Schulen ist, darf dann auch die Rechnung dafür zahlen. Wir sind keine Gefälligkeits-Ökonomie.

Das ansteckendste Virus ist die Angst


Politiker müssen den Bürgern zeitgleich auch Mut machen. Bei aller gebotenen Vorsicht dürfen wir nicht zur "toilet paper economy" verkommen, in der man sich aus Angst nur noch aus dem Haus traut, um Güter des alltäglichen Bedarfs zu kaufen. Übrigens, neben Corona sind auch Vereinsamung, Existenzangst, Depressionen, Alkohol- und Drogengenuss oder häusliche Gewalt ernstzunehmende Gesundheitsgefahren, die bei einer langen Rezession verschärft werden.

Tatsächlich haben sich Anschaffungsneigung, Konjunkturerwartungen und Konsumklimaindex laut GfK nach zwischenzeitlicher Erholung von den Tiefständen wieder eingetrübt. Firmenschließungen und die Gefahr von Arbeitslosigkeit würden die Moll-Stimmung noch vertiefen.

Grundsätzlich wird uns China allein nicht wirtschaftlich retten, zumal das dortige, zuletzt robuste Wirtschaftswachstum auf dramatische öffentliche Investitionen in Staatsunternehmen zurückgeht. Der Konsum bleibt dagegen verhältnismäßig schwach.

Man kann die Pferde zur Tränke führen, saufen müssen sie selbst


Die Geldpolitik bleibt mit Blick auf die geringen Inflationserwartungen sehr freizügig.

Allerdings schafft sie es nicht, das Kreditwachstum von Unternehmen und Haushalten wirkungsvoll zu stimulieren. Die Überschussliquidität in der Eurozone hat wieder einen neuen Rekordstand erreicht, doch kommt sie in der Privatwirtschaft nicht entsprechend an. Dort ist man offensichtlich zukunftsskeptisch.

Zum Ausgleich wird die EZB zum Staatsfinanzierer. Sie sorgt über geringste Kreditzinsen dafür, dass die galoppierende Verschuldung zum Zweck staatlicher Konjunkturmaßnahmen bezahlbar bleibt. Mit Blick auf die coronalen wie strukturbedingten Wirtschaftshemmnisse wird sie diese Rolle noch lange innehaben.

Marktlage - Fundamental pfui, Liquiditätsmäßig hui?


Neben der Lockdown-Gefahr bleiben die US-Präsidentenwahl und die Brexit-Frage Unsicherheitsfaktoren.

Joe Biden liegt in Umfragen vorne und auch die noch unentschlossenen Wähler sind mehrheitlich ihm und nicht wie vor vier Jahren Trump zugeneigt. Doch aufgrund des Mehrheitswahlrechts und der wahlpolitisch unsicheren Swing States bleibt unklar, wer die Wahl am 3. November gewinnt. Ein klares Ergebnis ist wünschenswert, um keine demokratische Unruhe aufkommen zu lassen. Unsicher ist zudem, ob die Demokraten neben dem Repräsentantenhaus auch den Senat für sich entscheiden. Würden das Biden-Lager das Triple erreichen und könnte "durchregieren", würde das den US-Aktienmärkten nicht unbedingt gefallen. Die Demokraten könnten auf wirtschaftspolitisch "dumme Ideen" kommen. Eine Patt-Situation zwischen House und Senat würde den Börsen besser gefallen.

In der Brexit-Frage pokern EU und britische Regierung hoch. Johnson zeigt dabei sogar politisches Theater auf einem Niveau, dass selbst Shakespeare neidisch machen würde. Ob es zu einer halbwegs freundlichen Scheidung kommt, hängt wesentlich davon ab, wer demnächst im Oval Office des Weißen Hauses sitzt. Bei einer Wiederwahl seines Freundes und EU-phoben Trumps und damit die Aussicht auf ein schon rein ideologisch gutes Handelsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und Amerika würde Johnson der EU wohl die Tür vor der Nase zuschlagen. Mit Joe Biden würde sich die Gemengelage jedoch radikal ändern. Für ihn hat ein pragmatisches Abkommen mit dem wesentlich größeren EU-Wirtschaftsraum Priorität. In diesem Fall bestünden - der britischen Not gehorchend - noch Chancen für eine Abwendung eines für beide Seiten wirtschaftsschädlichen schmutzigen Brexit.

Diese fundamentale Unsicherheit insgesamt schlägt sich auch im erwarteten Gewinnwachstum nieder. Zwar erholen sich die Ertragszahlen, sind jedoch im Vorjahresvergleich immer noch im negativen Bereich. Besonders prekär ist die Lage in der Eurozone. Hier zeigt das Gewinnwachstum keine Verbesserung an, was nicht zuletzt der fehlenden Digitalisierung und Reformpolitik geschuldet ist.

Droht dem Aktienmarkt also Schaden?


Ein eng geknüpftes Auffangnetz gegen drohende Einbrüche bietet nach wie vor die beispielslose Liquiditätsausstattung. Und die Zins-Diaspora relativiert die absolut hoch bewerteten Aktienmärkte.

Im Übrigen werden wohl über die anhaltend freizügige Geldpolitik weitere staatliche Konjunkturpakete zur Bekämpfung einer säkularen Stagnation ergriffen. Vor der Bundestagswahl wird sich keine Partei eine offene wirtschaftliche Flanke erlauben. Ohnehin dürfte die Aussetzung der Schuldenbremse eher zur Regel als zur Ausnahme werden. Es ist zu hoffen, dass neue staatliche Finanzspritzen auch umfangreich der Behebung der Strukturdefizite zugutekommen.

Eine innovativere Wirtschaftspolitik würde dem deutschen Aktienmarkt fundamental nachhaltigen Auftrieb geben.

Sentiment - Zurzeit Patt-Situation


Institutionelle Anleger, die über die Eurex spekulieren, haben zuletzt aus Verunsicherung stark auf Puts und damit Rückgänge am Aktienmarkt gesetzt. Immerhin ist der Aktienmarkt damit gegen große Eintrübungen abgesichert.

Auf der Zeitschiene kommt Bewegung ins Spiel. Wenigstens werden in den nächsten Wochen mit der Präsidentenwahl und der Brexit-Entscheidung zwei politische Unsicherheitsherde verschwinden. Dann sieht man klarer.

Doch ist nicht mit einem zügigen Ausbruch nach oben aus der seit Juni bestehenden Seitwärtsbewegung zwischen knapp 12.000 und ca.13.300 DAX-Punkten zu rechnen. Für die weitere Börsenstimmung ist die Entwicklung der R-Rate von großer Bedeutung. Sie zeigt die coronale Ansteckungsdynamik und ist insofern der maßgebliche Indikator für die Durchschlagskraft der ergriffenen Maßnahmen und vor allem der Lockdown-Wahrscheinlichkeit. Damit steht und fällt auch die Jahresend-Rallye ab.

Charttechnik DAX - Seitwärts


Psychologisch wichtig ist das Halten der 200 Tage-Linie bei 12.413 DAX-Punkten. Charttechnisch liegen darunter erste Haltelinien bei 12.250 und 12.142 Punkten. Bei einer Erholung trifft der Index zunächst bei 12.600 und 12.675 auf erste Widerstände. Darüber folgen Barrieren bei 12.802 und 12.857 Punkten.

Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: https://www.roberthalver.de/Newsletter-Disclaimer-725

Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank.