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Was haben die 26. UN-Klimakonferenz in Glasgow, der 125. Deutsche Ärztetag und der Abschluss des ersten Ampelkoalitionsvertrags gemeinsam? Nicht nur fanden sie alle im November statt, sondern sie werfen gemeinsam ein Schlaglicht auf die aktuell größten Krisen und Aufgaben. Denn auch wenn die Corona-Pandemie gegenwärtig die Schlagzeilen beherrscht und natürlich bewältigt werden muss, ist die Klimakrise für die individuelle und langfristige Gesundheit der Menschen die weit größere Katastrophe. Hitzewellen belasten Herz und Kreislauf und sind bereits jetzt häufig tödlich für ältere Menschen. Heute geborene Kinder werden in ihrem Leben dreimal häufiger extreme Hitzewellen erleben. Steigende Temperaturen begünstigen die Ausbreitung von gefährlichen Krankheitserregern, Pollenallergien dauern länger an.


"Wo die Gesundheit des Klimas, jedes Menschen und der gesamten Natur gefährdet ist, entstehen auch extreme Risiken für die Realwirtschaft und den Finanzsektor."

Ähnlich wie auf Corona ist unser Gesundheitssystem nicht auf die gesundheitlichen Folgen der Erderhitzung vorbereitet. "Es sind unverzüglich Planungen und Umsetzungen einzuleiten, um vulnerable Gruppen und Erkrankte sowie die Einrichtungen zu schützen und eine hitzebedingte Übersterblichkeit zu vermeiden", heißt es im Abschlussbericht des Deutschen Ärztetags. Darüber hinaus konstatiert der Bericht: Im Wissen darum, dass der Gesundheitssektor selbst Emissionen verursacht und zur Klimakrise beiträgt, müssten das Gesundheitssystem und die ärztliche Arbeit klimafreundlich gestaltet werden. Das reicht von der Arzneimittelherstellung über Hygienemittel und Müll bis hin zum Energieverbrauch.

Körperliche Unversehrtheit und Gesundheit in einer zunehmend zerstörten Umwelt kann es nicht geben. Wo die Gesundheit des Klimas, jedes Menschen und der gesamten Natur gefährdet ist, entstehen auch extreme Risiken für die Realwirtschaft und den Finanzsektor. Diese Erfahrung machen wir derzeit in der Corona-Pandemie - entsprechend größer werden die Risiken der Klimakrise für die Wirtschaft sein.

Preisen die Märkte die Risiken ein? Die transitorischen Risiken steigen, je länger der notwendige Ausstieg aus der CO2-Wirtschaft hinausgezögert wird. Je später, desto schneller muss sich diese Transformation der gesamten Wirtschaft vollziehen. Gleichzeitig nehmen die physischen Risiken mit Fortschreiten der Klimakrise ebenfalls zu. Für den Finanzsektor stellt sich da die Frage: Sind diese Risiken in den Bewertungen von Aktien, Immobilien und Krediten in den Finanzmärkten überhaupt schon eingepreist? 100 Milliarden Euro müssen Unternehmen jährlich zusätzlich investieren, um wirksamen Klimaschutz zu betreiben, so eine Studie des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Dabei müssen Energie-, Industrie-, Immobilien-, Gesundheits- und Verkehrssektor komplett umgebaut werden. Neue Verfahren, Unternehmen und Technologien werden entstehen, alte umgebaut oder abgewickelt werden müssen.

Die Situation bietet Chancen und Risiken in bisher nicht gekannter Dimension. Und von beiden wird es in Zukunft eher mehr als weniger geben. Der Finanzsektor aber hat bisher nicht die richtigen Instrumente zur Ermittlung und Bewertung dieser Chancen und Risiken entwickelt. Wenn es dabei bleibt, wird es zu erheblichen Verwerfungen an den Finanzmärkten kommen. Wenn Chancen und Risiken nicht adäquat in die Risikoberechnungen einbezogen werden, wird es eine extreme Fehlallokation der Finanzmittel geben. Es wird dann zum Beispiel Geld in alte Technologien, Märkte und Unternehmen investiert anstatt in solche, die Zukunftschancen bieten. Aus einzelwirtschaftlicher Sicht werden Risiken angehäuft und Chancen verpasst.

Die Klimastresstests, die die EZB im Moment von größeren Banken fordert, sowie die Taxonomie und die Verpflichtung, künftig auszuweisen, wie viele nachhaltige Anlagen man hält, können wir als Starthilfe sehen, damit Unternehmen Chancen und Risiken zukünftig adäquat in die Preise, Steuerungs- und Risikosysteme des Finanzmarkts integrieren. Das mag zunächst die Befürchtung wecken, dadurch würden die Risiken entstehen. Das ist aber nicht der Fall. Dieses Vorgehen würde die bereits bestehenden Risiken sichtbar - und bewältigbar - machen. Geschieht dies nicht, werden diese Risiken erst sichtbar, wenn sie schockartig und real eintreten.


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Zum Autor: Thomas Jorberg
Thomas Jorberg wurde 1957 in Rothenburg ob der Tauber geboren und wuchs in Stuttgart auf. Eher zufällig lernte er bei einem Besuch in Bochum die kurz zuvor gegründete GLS Bank kennen und wurde 1977 einer der ersten Auszubildenden der Bank. Nach seinem Volkswirtschaftsstudium kehrte er zurück. Seit 1993 ist er im Vorstand der GLS Bank. Das Institut ist die größte deutsche Bank, die nach ökologischen und sozialen Krite­rien arbeitet, und konnte seit der Finanzkrise 2008 stark wach­sen. Mit über 300000 Kunden und 6,6 Milliarden Euro an Kundeneinlagen ist sie eine der größten Genossenschaftsbanken.

Forum: An dieser Stelle schreiben neben Tho­mas Jorberg diese Experten ab­wechselnd über ein Thema aus Wirtschaft und Finanzen.