Wenn Steve Jobs ergebenen Apple-Fanboys die neuesten Errungenschaften aus der sagen-umwobenen Entwicklungsabteilung präsentierte, glich das stets einer religiösen Erweckungsfeier. Die akribisch choreographierten Veranstaltungen steuerten in schöner Regelmäßigkeit auf einen einzigen Satz zu: "One more thing" (Deutsch: Eine Sache noch), den Jobs stets so beiläufig ins Auditorium hauchte, als ginge es um die Warnung vor allzu langen Wartezeiten vor den Klos oder Stauhinweise auf dem Highway 101 - und nicht um die Ankündigung der nächsten Weltrevolution.

Am Konzernsitz in Cupertino war das "One more thing" des Meisters jahrelang so heilig, dass sich keiner aus der Führungsriege traute, die heiligen Worte auch nur zu flüstern - bis gestern. "One more thing", sagte Cook gestern Abend unter dem aufbrandenden Jubel des Auditoriums noch - und schickte die lange erwartete Smartwatch von Apple an den Start.

Anfang 2015 soll die "Apple Watch" in den USA zu Preisen ab 350 Dollar an den Start gehen und die Kategorie der am Körper getragenen Kleinstcomputer - neudeutsch "Wearables" - neu definieren. Mit den Cleveruhren können Nutzer nicht nur die Zeit ablesen, sondern auf ihre Mobiltelefone zugreifen, E-Mails checken oder ihre Fitness überwachen.

Flaue Konkurrenz

Doch Apples nächster Vorstoß in eine völlig neue Produktkategorie nach den Mega-Erfolgen mit dem iPhone und dem iPad wird kein Selbstläufer. Rivalen wie Samsung, Motorola, TomTom oder LG sind mit ihren Wearables bereits vorgeprescht - bislang mit sehr überschaubarem Erfolg. Mal monieren Nutzer Probleme mit der Akkulaufzeit, mal verrostete Ladepins oder miese Anbindungen an ihre Smartphones. Der Absatz ist entsprechend schleppend.

Bei Apple soll nun alles anders werden. Apples Design-Ikone Sir Jonathan Ive persönlich hat die Uhr gestaltet und der Apple Watch gleich noch eine komplett neue Nutzeroberfläche spendiert. Künftig können Apple-Watch-Träger ihre SMS checken, ihre Trainingsläufe aufzeichnen oder Navi-Hinweise per Vibrationshinweis auf dem Handgelenk erhalten.

Die Apple Watch sieht zwar schön aus. Aber die Frage ist: Liefert sie auch genug Mehrwert, dass Endkunden zugreifen und sie jede Nacht aufladen?"
Macquarie-Analyst Ben Schachter nach der Präsentation der Apple Watch.

Doch während viele Apple-Jünger nach den Produkt-Demos vor Begeisterung schnappatmeten, zeigten sich Analysten ernüchtert: "Das war jetzt nicht so cool, wie ich befürchtet habe", maulte etwa Uhren-Analyst Jon Cox von Kepler Cheuvreux. Cox’ Kollege Ben Schachter von Macquarie war ähnlich enttäuscht: Die Uhr sehe zwar "schön aus. Aber die Frage ist: Liefert sie auch genug Mehrwert, dass Endkunden zugreifen und sie jede Nacht aufladen?".

Auf Seite 2: Was die Apple Watch für den Konzern bedeutet

Sind das nur die branchen-üblichen Miesepetereien? Vielleicht. Aber ein paar einfache Rechenexempel dürften das aufgeregte Mediengeschrei um die Apple Watch rasch dämpfen. Schließlich ist Apple ein Riese. Alleine im ersten Quartal 2015 dürfte der Konzern nach Schätzung von UBS-Analyst Steven Milunovich rund 52 Milliarden Dollar umsetzen. Wenn die Clever-Uhren aus Cupertino zum Jahresauftakt nur zehn Prozent zu den Erlösen beitragen soll, müssten die Kalifornier alleine zwischen Januar und März gut fünf Milliarden Dollar mit der Apfel-Uhr einfahren. Umgerechnet auf einen unterstellten Durchschnittspreis pro Uhr von 370 Dollar wären das gut 14 Millionen Apple Watches - in einem Quartal. Das ist auch für einen Mega-Konzern wie Apple kein Pappenstiel.

Welche Produkte die Apple-Aktien treiben - und welche nicht

Ungeachtet des weltweiten Getöses um die Apple Watch wird der Kurs der Apple-Aktie also auch künftig von anderen Produkten getrieben. Dazu gehören die Mac-Computer, das iPad - und vor allem das iPhone. Das Smartphone mit dem Apfel steht inzwischen für rund 55 Prozent des fürs laufende Geschäftsjahr (30.9.) erwarteten Konzernumsatzes von rund 184 Milliarden Dollar.

Kein Wunder, dass die Analysten vor allem auf die neuen iPhones schauten. Die jüngste Generation des iPhones gibt es künftig mit 4,7 und 5,5 Zoll-Displays und damit deutlich größeren Touchscreens als das Vorgängermodell mit vier Zoll. Die Geräte sollen ab dem 19. September in den USA, Deutschland und weiteren wichtigen Märkten verfügbar sein.

Mit den von Jobs lange verpönten größeren iPhones reagiert der Konzern auf den Siegeszug der großen Smartphones. Alleine zwischen April und Juni hatten weltweit rund 40 Prozent aller verkauften Smartphones Bildschirme von mindestens fünf Zoll. Ein Jahr zuvor lag der entsprechende Anteil noch bei 21 Prozent. Jetzt zieht Apple nach.

Wachsende Zuversicht bei Analysten

Angesichts der neuen Modelle wächst unter Analysten nun die Zuversicht. Erst am Freitag hatte Toni Sacconaghi von Bernstein Research seine Prognose zum iPhone-Absatz um neun Prozent auf 182 Millionen Geräte angehoben. Zur Begründung erklärte Sacconaghi, viele iPhones seien inzwischen über zwei Jahre alt. Daher dürften viele Nutzer die Gelegenheit nutzen und sich ein neues iPhone zulegen. Auch JP-Morgan-Analyst Rod Hall glaubt an einen starken Upgradezyklus und ist sogar noch optimistischer: Im kommenden Jahr könnte Apple rund 200 Millionen iPhones verkaufen, glaubt Hall. Im besten Fall seien sogar 235 Millionen drin, schreibt der JP-Morgan-Mann in einer aktuellen Studie. Das wären je nach Entwicklung zwischen 20 und 40 Prozent mehr als im laufenden Jahr.

Ob die Apple Watch im kommenden Geschäftsjahr dann bei 20, 30 oder 40 Millionen Einheiten landet, wäre da schon fast egal.

Auf Seite 3: Unsere Einschätzung zur Aktie

Einschätzung der Redaktion

Der Medienhype um die Apple Watch ist verständlich. Aber das weltweite Getöse verstellt den Blick auf den entscheidenden Faktor für die Kursentwicklung der Apple-Aktie - das iPhone. Und da sieht’s auch mittelfristig gut aus. In Europa und den USA werden Handys üblicherweise zusammen mit einem Mobilfunkvertrag verkauft. Das gilt auch fürs iPhone. Im kommenden Jahr laufen Studien zufolge überdurchschnittlich viele iPhone-Altverträge aus. Damit dürften zahlreiche Kunden die Gelegenheit nutzen und einen neuen Mobilfunkvertrag abschließen - samt iPhone 6. Denn in Sachen Qualität und Zuverlässigkeit gibt es bei Apple kaum Grund zu Klagen. Und mit der neuesten Generation hat der Konzern der Marktentwicklung endlich Tribut gezollt und liefert sein Flaggschiff nun mit deutlich größeren Displays aus. Damit fällt ein entscheidender Wechselgrund weg.

Und was die Apple Watch anbelangt, ist derzeit zwar noch vieles Hype und die Skepsis groß. Aber kaum eine andere Marke hat eine so starke Strahlkraft wie Apple. Das scheinen viele Beobachter zu unterschätzen.

Zwar ist die wirtschaftliche Bedeutung der Apple Watch im Vergleich zu iPhone und iPad wohl zunächst sehr überschaubar. Aber viele iPhone-Nutzer müssen nicht so sehr auf den Preis schauen. Da kommt die Apple Watch als Coolness-Booster oder Zweituhr gerade recht. Zudem liefern die Kalifornier auch für ihre Cleveruhr ein Entwickler-Kit. Das ist smart. Denn viele Software-Spezialisten dürften in den kommenden Monaten ganz neue Anwendungen und Apps für die Apple Watch und das Zusammenspiel mit dem iPhone entwickeln und die Uhr damit noch attraktiver machen. Angesichts dessen könnte die Apple Watch ein Erfolg werden - allen Unkenrufen zum Trotz.

Bei der Apple-Aktie haben nach der Präsentation vom Dienstag Gewinnmitnahmen eingesetzt. Das war zu erwarten. Mutige Anleger sollten die Gelegenheit nun aber nutzen und erste Positionen aufbauen. Das iPhone 6 und sein großer Bruder iPhone 6 Plus dürften dem Konzern-Umsatz demnächst einen ordentlichen Schub verpassen. Zudem ist das Papier mit einem 2015er KGV von 14 immer noch relativ günstig. Auch charttechnisch ist alles im grünen Bereich. Nach unten ist die Aktie gut abgesichert. Wir sehen ein Kursziel von 86 Euro. Stopp bei 63 Euro. Kaufen.