Dabei hat Mays Visite nach Ansicht der Bundesregierung vor allem eines gezeigt: Die britische Regierung hat eigentlich überhaupt keine Ahnung, was das Ziel der Brexit-Gespräche mit der EU sein soll.

Daraus werden in Berlin drei Schlüsse gezogen: Erstens will man den Briten Zeit mit dem Ziehen des Artikels 50 geben, der die Austrittsverhandlungen formell eröffnen würde. Dieser Haltung hat sich nun auch Frankreichs Präsident Francois Hollande angeschlossen. Zweitens bemüht man sich in der Zwischenzeit um einen möglichst freundlichen Umgang mit London.

"Denn das gegenseitige Zerstörungspotenzial ist enorm", sagt ein Regierungsvertreter mit Hinweis darauf, dass Großbritannien auch in der Verhandlungsphase noch als vollwertiges EU-Mitglied agiere. Drittens aber, so die Warnung, dürfe man Freundlichkeit nicht mit Nachgiebigkeit in den Verhandlungen verwechseln. "An den vier EU-Grundfreiheiten wird nicht gerüttelt werden", heißt es in der Bundesregierung.

ARTIKEL 50 WIRD IMMER SPÄTER ERWARTET



Berlins Geduld mit London wird vor allem mit dem Argument gerechtfertigt, dass es wenig Sinn habe, mit einer Regierung zu verhandeln, die nicht wisse, was sie wolle. May selbst hatte angekündigt, den Artikel 50 nicht mehr in diesem Jahr zu nutzen. Der Brexit-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Nikolai von Ondarza, glaubt nicht einmal mehr an die Nutzung des Artikel 50 vor dem Jahrestag des Brexit-Referendums am 23. Juni 2017. Grund sei der Machtkampf in der konservativen britischen Regierung, in der es sehr unterschiedliche Vorstellungen über die künftige Rolle des Landes gebe.

Die Verzögerung dürfte nicht nur Unternehmen verunsichern. "Wegen der Wahlen in Frankreich und Deutschland wäre dann 2017 gar nicht mehr mit Verhandlungen zu rechnen", sagt der SWP-Europaexperte. Mit einer Klärung des Status Großbritanniens zur EU rechnet er frühestens 2019 - also in dem Jahr, in dem auch das Europäische Parlament wieder gewählt wird.

FREUNDLICHKEIT SOLL SCHADEN BEGRENZEN



Umso größer ist die Verwunderung, wenn etwa der neue britische Außenminister Boris Johnson bereits verkündet, britische Banken würden seiner Meinung nach ihren Zugang zum EU-Binnenmarkt nicht verlieren. Dass die Reaktionen aus der EU dennoch moderat ausfallen, liegt am Wissen um die gegenseitige Abhängigkeit. In der nun entstehenden rechtlichen Grauzone können sich Briten und EU-Europäer erheblich schaden.

Was etwa passiert, wenn Großbritannien das Handelsabkommen Kanadas mit der EU verzögern sollte, weil es davon nicht mehr profitieren würde? "Der Schaden eines Streits wird aber auf jeden Fall in Großbritannien größer sein", sagt Bernd Hüttemann, Generalsekretär der Europäischen Bewegung Deutschland, einer überparteilichen Nicht-Regierungsorganisation.

Deshalb rät er der Regierung in London, nun nicht wie angekündigt bilaterale Handelsabkommen anzustreben - denn dies würde EU-Recht widersprechen. Die USA haben am Montag ohnehin betont, Gespräche seien so lange nicht sinnvoll, bis die Briten ihr Verhältnis zur EU geklärt hätten.

Allerdings wird auch vor der Aktivierung des Artikels 50 miteinander gesprochen. "Die Briten werden mit Sicherheit in Gesprächen immer wieder testen, wie weit die EU bei der Beschränkung der Freizügigkeit von EU-Ausländern oder dem Zugang zum Binnenmarkt gehen würde", glaubt von Ondarza. In der Regierung bestätigt man diese Erwartung. Weil man in Berlin aber um die Empfindlichkeit der anderen EU-Partner und der zuständigen EU-Kommission weiß, hat Regierungssprecher Steffen Seibert bereits "informelle oder formelle Verhandlungen" ausgeschlossen.

FÄLLT GROSSBRITANNIEN AUF DEN STATUS KANADAS ZURÜCK?



Der bemüht freundliche Ton habe aber nicht mit inhaltlichen Konzessionen zu tun, wird in der Bundesregierung betont. "Dass Merkel am Ende bei den vier EU-Grundfreiheiten nachgeben wird, erwarte ich nicht", betont auch SWP-Experte von Ondarza mit Blick auf die von London geforderte Einschränkung der Personenfreizügigkeit für EU-Bürger.

Hüttemann warnt sogar ausdrücklich vor Zugeständnissen. Zwar forderten die deutschen Wirtschaftsverbände eine möglichst "weiche Trennung", um die Geschäftsbeziehungen nicht zu gefährden. "Aber die wirtschaftlichen Beziehungen etwa Deutschlands zu Großbritannien werden sehr überschätzt", glaubt Hüttemann. Die EU sitze am längeren Hebel in den Verhandlungen.

Auch in der Bundesregierung hält man die Annahme von Brexit-Befürwortern für eher naiv, dass man am Ende sowohl den Zuzug von EU-Bürgern beschränken als auch den vollen Binnenmarktzugang bewahren könne. Mehr sagen will man dazu nicht. SWP-Experte von Ondarza glaubt, dass sich in der britischen Regierung eher die Hardliner durchsetzen werden, die lieber den Binnenmarktzugang opfern, um die Zahl der Zuwanderer beschränken zu können. "Deshalb glaube ich nicht, dass Großbritannien am Ende einen Status wie die Schweiz oder Norwegen bekommen wird", meint er. Er tippt eher auf das Modell Kanada: Mit diesem Land hat die EU gerade ein Freihandels- und Investitionsabkommen ausgehandelt. rtr