"Wir haben wenig Belege dafür, dass es einen deutlichen Effekt unmittelbar nach dem Votum gab", sagte ONS-Chefvolkswirt Joe Grice. Damit hat die Wirtschaft den ersten Schock nach der Brexit-Abstimmung gut verdaut - und die von vielen befürchtete Krise bislang vermieden. Auch die britische Notenbank dürfte ihre Zinsen jetzt wohl nicht schon kommende Woche weiter senken, sondern erst Anfang 2017. Im nächsten Jahr droht der Konjunktur aber Ungemach. Denn neue Unsicherheit könnte aufkommen, wenn Großbritannien und die EU über ihre künftigen Beziehungen verhandeln.

Der frühere Regierungschef David Cameron hatte noch mit drastischen Worten vor den wirtschaftlichen Folgen eines EU-Austritts gewarnt und ihn als "Option zur Selbstzerstörung" bezeichnet. Doch die Briten stimmten dann im Juni überraschend dafür. Dies hatte die Stimmung der Wirtschaft zunächst einbrechen lassen und das Pfund massiv auf Talfahrt geschickt. Seitdem haben viele Firmen den ersten Schock des Brexit-Votums aber verarbeitet.

"BREXIT-GESPENST ERSCHRECKT NOCH KAUM JEMANDEN SO RICHTIG"



Die Wirtschaft wuchs im abgelaufenen Quartal zwar langsamer als im Frühjahr mit 0,7 Prozent. Ökonomen hatten aber nur mit einem Plus von 0,3 Prozent gerechnet. Für Schwung sorgten allein die Dienstleister, während Industrie und Bau schwächelten.

"Das Brexit-Gespenst konnte auf der Insel bisher offenbar noch kaum jemanden so richtig erschrecken", sagte NordLB-Experte Jens Kramer. Aber wie viele andere Ökonomen geht er davon aus, dass die Konjunktur in den nächsten Quartalen weiter an Schwung verliert. "Wir erwarten, dass sich das Wirtschaftswachstum nach 1,9 Prozent in diesem Jahr dann 2017 mehr als halbiert auf 0,7 Prozent und damit auf den schwächsten Wert seit 2009", sagte auch Allianz-Analystin Katharina Utermöhl. Sie rechnet damit, dass Firmen ihre Investitionen und Neueinstellungen deutlich zurückfahren.

Dies wäre wohl vor allem der Fall, wenn es zum sogenannten harten Brexit kommt - Großbritannien also nicht mehr Teil des gemeinsamen EU-Binnenmarktes wäre. Diese Frage dürfte der Knackpunkt in den Verhandlungen mit der EU werden. Die neue britische Regierungschefin Theresa May will den offiziellen Antrag zum Austritt aus der Europäischen Union bis Ende März einreichen und dann die Gespräche beginnen. Diese dürften wohl mindestens zwei Jahre dauern.

Die britische Wirtschaft kann weiter auf Rückenwind von Politik und Notenbank hoffen. Finanzminister Philip Hammond kündigte trotz der guten Konjunkturdaten Schritte an, um das Wachstum anzukurbeln. "Ich glaube, es ist richtig, dass wir uns weiter darauf vorbereiten, die Wirtschaft in nächster Zeit zu unterstützen, um sicherzugehen, dass wir durch diese Phase der Unsicherheit kommen." Hammond legt in rund vier Wochen seinen neuen Haushaltsentwurf vor.

Im August lockerte die britische Notenbank (BoE) ihre Geldpolitik bereits, um der Wirtschaft über die ersten Turbulenzen hinwegzuhelfen. Volkswirte rechnen einer Umfrage zufolge mit einer weiteren Zinssenkung erst Anfang 2017. Nach den BIP-Daten ist aus Sicht vieler Experten ein solcher Schritt für die BoE-Sitzung nächste Woche vom Tisch. Zudem hatte sich Notenbankchef Mark Carney jüngst besorgt darüber geäußert, dass der Pfund-Verfall für eine steigende Inflation sorge. Dies wiederum dürfte im nächsten Jahr die Kaufkraft der Verbraucher belasten.

Während ein harter Brexit zu einer Flucht von Banken aus der Finanzmetropole London führen könnte, profitieren exportorientierte Unternehmen vom Referendum. So steigerte der britische Pharmakonzern GlaxoSmithKline dank des Pfund-Verfalls seinen Gewinn stärker als erwartet. Der japanische Autokonzern Nissan entschied sich derweil einem Unternehmens-Insider zufolge, das nächste Modell des Geländewagens Qashqai in Großbritannien zu bauen.

rtr