WANN TRETEN DIE BRITEN AUS?



Das ist die Königsfrage, auf die derzeit niemand die Antwort kennt. Der britische Premierminister David Cameron hat vor dem Referendum versichert, dass er die EU "umgehend" über den Austritt seines Landes informieren werde, wenn die Briten dafür stimmen. Wenige Stunden nach dem Ergebnis der Abstimmung kassierte Cameron diese Aussage gleich in zweierlei Hinsicht ein: Denn nicht er will die EU über die Aktivierung des entsprechenden Artikel 50 des Lissabon-Vertrages in Kenntnis setzen, sondern sein noch zu wählender Nachfolger. Da jener Nachfolger aber erst im Oktober bestimmt werden soll, hat der Begriff "umgehend" am Freitagmorgen umgehend eine sehr relative Bedeutung bekommen. Auch Camerons Widersacher und möglicher Nachfolger Boris Johnson sagt, es bestehe "keine große Eile" für das Königreich, den EU-Austritt zu erklären.

In Brüssel gibt es dazu unterschiedliche Stimmen: EU-Parlamentspräsident Martin Schulz fordert, dass Cameron bereits beim EU-Gipfel am Dienstag die übrigen Staats- und Regierungschefs über die Aktivierung von Artikel 50 informiert. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will den Scheidungsbrief aus London "sofort", lässt aber ein konkretes Datum offen. Auch EU-Ratspräsident Donald Tusk setzt den Briten keine genaue Frist - wohl wissend, dass die EU ohnehin keine rechtliche Handhabe hat, das Königreich auszuschließen. Stattdessen schaut die EU gebannt nach London - denn nur dort kann die Entscheidung für den sogenannten Brexit fallen.

KANN DER BREXIT GESTOPPT WERDEN?



Theoretisch Ja. Denn rechtlich sind britisches Parlament und die Regierung an den Ausgang des Referendums nicht gebunden. Das Oberhaus, das "House of Lords", hat im Mai ein Rechtsgutachten veröffentlicht, demzufolge Artikel 50 auch nach der Aktivierung von der Regierung in London wieder zurückgezogen werden kann. In Brüssel vertritt man dagegen die Linie: "Raus ist raus." Allerdings gibt es in den EU-Institutionen Mutmaßungen, dass Artikel 50 vielleicht niemals aktiviert wird. Im Umfeld von Tusk heißt es zudem, dass die Briten zunächst einmal ihre schwere innenpolitische Krise bewältigen müssen, bevor sie den EU-Austritt offiziell machen.

Mit dem vor dem Abschied stehenden Cameron ist die britische Regierung derzeit aber ohne klare Führung und sowohl die Tories als auch Labour sind in Aufruhr. Im Unterhaus sind zudem jene Abgeordneten in der Mehrheit, die das Königreich in der EU halten wollen. Wie eine neue Regierung, die womöglich vom Brexit-Befürworter Johnson geführt wird, diese Parlamentarier hinter sich bringen will, ist unklar. Ein Ausweg wären Neuwahlen.

GIBT ES EIN ZWEITES REFERENDUM?



Eben jene Neuwahlen könnten zu einem zweiten, inoffiziellen Referendum mutieren, wenn sich die Parteien klar für oder gegen einen EU-Austritt positionieren. Daneben sorgt eine Online-Petition im Königreich für Aufregung, die ein zweites Referendum fordert und bis Sonntagnachmittag bereits weit über drei Millionen Unterschriften erhalten hat. Aus der Labour-Partei kommen bereits Stimmen, die eine zweite Volksabstimmung fordern. "Wenn heute die Abstimmung wäre, hätte der Brexit keine Chance", mutmaßt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, Elmar Brok (CDU). Dass die Regierung der Konservativen das Referendum vom Donnerstag einfach ignoriert, ist indes kaum vorstellbar, weil sie damit den demokratisch zustande gekommenen Willen des britischen Volkes ignorieren würde.

WER WILL WAS IN LONDON UND BRÜSSEL?



Das Brexit-Lager will mit der EU die Bedingungen für das weitere Verhältnis zur Staatengemeinschaft verhandeln, bevor Artikel 50 aktiviert wird. Dieses Vorgehen stößt aber in Brüssel und anderen EU-Hauptstädten auf erbitterten Widerstand. Denn durch dieses "Rosinenpicken" könnte auch in anderen EU-Staaten die Idee aufkommen, Brüssel mit dem Ausstieg aus der Union zu drohen und damit mehr Rechte als Pflichten für sich herauszuschlagen. "Wir dürfen uns nicht erpressen lassen", fordert der Europapolitiker Brok. Unklar ist deshalb, wie das Brexit-Lager das Versprechen umsetzen will, freien Zugang zum EU-Binnenmarkt herauszuschlagen, ohne die damit verknüpfte freie Wahl des Arbeitsortes von EU-Bürgern zu gewähren.

WAS MACHEN DIE SCHOTTEN?



Die pro-europäischen Schotten haben beim Referendum mit 62 zu 38 Prozent für einen Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt. Nach Angaben der Chefin der schottischen Nationalregierung, Nicola Sturgeon, könnte das schottische Parlament ein Veto gegen die Aktivierung von Artikel 50 einlegen. Es ist aber unklar, ob ein solches Veto rechtlich bindend wäre.

Als zweite Option könnten die Schotten nach 2014 ein zweites Referendum über die Zugehörigkeit ihres Landes zum Vereinigten Königreich abhalten. Die Regierung in London müsste dann nicht nur das Ausscheiden aus der EU verkraften, sondern auch den Abschied von fünf Millionen Schotten.

WAS IST MIT EINEM "BRENTRY" ODER EINEM "DIRTY BREXIT"?



Eine künftige britische Regierung kann auch nach einem Brexit entscheiden, der EU wieder beitreten zu wollen. Ein solcher "Brentry" würde allerdings sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, und die Briten hätten keine Garantie, dass sie erneut Sonderregeln wie die Nicht-Zugehörigkeit zum Schengen-Raum oder die Beibehaltung des Pfund Sterling herausschlagen könnten.

Umgekehrt könnte eine neue britische Regierung auch einfach die Tür hinter sich zuschlagen und auf Austrittsverhandlungen ganz verzichten. Ein derartiger "Dirty Brexit" würde aber wohl die Glaubwürdigkeit des Königreichs in internationalen Verträgen beschädigen.