Dieser Mann bewegt die Börse: Seit der US-Bestsellerautor Michael Lewis sein neuestes Buch "Flash Boys" veröffentlich hat, ist die Wall Street in Aufruhr. Das Werk über den umstrittenen Hochfrequenzhandel an den Börsen, das seit Donnerstag auch in Deutschland im Handel ist, ließ nicht nur die Kurse der Discountbroker um zehn Prozent abstürzen, es hat auch eine Kaskade von Ermittlungen ausgelöst. Die Behörden wollen herausfinden, ob der Hochfrequenzhandel nicht eine Art Front Running oder Insider-Trading darstellt. Für den Autor selbst ist das gar keine Frage. "Die Märkte sind manipuliert," sagt Lewis.

Können Privatanleger der Börse also überhaupt noch trauen?

Klare Antwort: ja. Gegen Profis mit schnellen Computern hatte man als Kleinanleger nie eine Chance, der dem Einzelnen entstehende Schaden durch Speedtrader ist vernachlässigenswert. Statt mit dem Hasen mitzurennen, sollten Privatanleger es lieber wie der Igel halten und mit langfristigen, klug durchdachten Investmentideen an der Börse mitstreiten. Sallie Krawcheck, frühere Chefin von Merrill Lynch und sonst gern eine kritische Stimme, beschwichtigt: "Anleger sollten sich durch die Diskussion bloß nicht davon abhalten lassen, am Aktienmarkt zu investieren."

Dennoch musste wegen "Flash Boys" der größte Hochfrequenzhändler, der gerade an die Börse gehen wollte, sein Debüt am Parkett auf unbestimmte Zeit verschieben. Gleich vier verschiedene US-Regulatoren kündigen Untersuchungen zum Thema Hochgeschwindigkeitshandel an. Die Speedtrader selbst gründen eine eigene Interessenvertretung, um Lobbyarbeit in Washington zu betreiben.

Die Stimmung an der Wall Street kocht über: Kaum einer, der nicht mitdiskutiert, ob der Hochfrequenzhandel die Märkte nicht insgesamt stabiler, schneller und günstiger macht oder ob er eben doch einer Elite von Händlern, die sich die schnellste Information über die Kurse leisten können, die Schnäppchen auf dem Silbertablett präsentiert. Und dass diese dann als Insider Gewinne abschöpfen, ehe ein normaler Anleger auch nur ein Mal blinzeln kann.

Lewis hat Mitleid mit dem Durchschnittsanleger. Sein Rat: "Sie sollten zweimal nachdenken, ehe sie eine Order platzieren."

Während die meisten Privatanleger nach der Weltfinanzkrise ihre Wunden leckten, hat sich die Struktur des amerikanischen Aktienmarkts dramatisch gewandelt. Und zwar so sehr, dass ein Piktogramm die Komplexität des Systems kaum noch abbilden kann. Die Anwesenheit von Hochfrequenzhändlern ist nur einer von vielen Aspekten.

Noch vor zehn Jahren gab ein Privatanleger in den USA eine Order an seinen Broker, der sie an die New York Stock Exchange oder die Nasdaq schickte, wo sie im Orderbuch des Kursmaklers mit dem besten Angebot abgeglichen wurde. Gab es kein Gegenangebot, trat der Makler selbst ein und stellte Liquidität.

Heute verkaufen die amerikanischen Broker ihre Kundenorders meistbietend an sogenannte Dark Pools, Schattenbörsen, die meist von Investmentbanken betrieben werden. Algorithmen analysieren die Order und entscheiden, wo sie zuerst hingeleitet wird. Inzwischen gibt es eine Auswahl von mehr als 40 Dark Pools und 13 Börsen. Hier grasen die Computeralgorithmen der Hochfrequenzhändler das Feld ab und stellen die Gegenseite für die meisten Privatkundenorders. Auch die Dark Pools bezahlen den Hochfrequenzhändler für seine Anwesenheit zum Kursestellen: in der Regel mit 0,00029 Dollar pro Aktie. Findet die Order keinen Kontrahenten, geht sie in den nächsten Pool - ganz am Ende der Liste erst steht die New York Stock Exchange.

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Der Kampf um Hunderstel Cent

Dass Normalanleger im Kampf mit überlegenen Hochgeschwindigkeitshändlern übervorteilt werden, ist nicht unbedingt wahr: Die Speed- Händler stehen nicht im Wettbewerb mit dem Kleinaktionär - vielmehr versuchen sie, sich beim Bedienen der Order des Kleinaktionärs gegenseitig zu überholen. Pro gehandelter Aktie gewinnen Hochgeschwindigkeitshändler im Schnitt drei bis fünf Hunderstel eines Cent.

Die Elektronisierung des Aktienmarkts hat ihn für Anleger verbessert, ziehen die Professoren James Angel von Georgetown, Lawrence Harris von der University of Southern California und Chester Spatt von Carnegie Mellon das Fazit ihrer Studie von 2013: Anhand von 22 verschiedenen Kriterien ist der Aktienhandel effizienter geworden. Seit 2005, als die elektronischen Handelssysteme größere Orderströme von den klassischen Börsen wegzuziehen begannen, hat sich die Ausführung extrem beschleunigt, und der Preis ist deutlich gesunken. Die meisten Orders werden in Mikrosekunden ausgeführt - 2005 dauerte es noch mehr als zehn Sekunden. Die Gebühr für eine Order durch einen Discountbroker liegt im Schnitt unter neun Dollar. Eine elektronische Order kostet eine Bank gerade einmal 0,8 Cent pro Aktie. Zugleich haben sich auch die Spreads verringert - die Spanne zwischen Kaufund Verkaufskurs, von der einst der Kursmakler lebte. Inzwischen steht sie für liquide Aktien bei einem Cent.

Pionier des Hochfrequenzhandels war Dave Cummings mit seiner Firma Tradebot, die das Konzept vor einem Jahrzehnt erfunden hat. Viele an der Wall Street feiern ihn als Visionär: "Weil Hochfrequenzhandelsfirmen statt Menschen Computer einsetzen, um Liquidität zu stellen, haben sie das Aktienhandelsgeschäft revolutioniert und der Gesellschaft mit der Reduzierung der Transaktionskosten einen Dienst getan", findet Manoj Narang, Gründer des Hochfrequenzhändler Tradeworx.

Selbst Joe Brennan, Chef der Aktiengruppe der Vanguard-Fonds, die für Produkte mit niedrigen Gebühren bekannt ist, tritt zur Verteidigung der Hochfrequenzhändler an: "Dank Hochfrequenzhändlern sind die Transaktionskosten für einen Roundtrip, also einen Kauf und einen Verkauf, in den vergangenen zehn Jahren um einen Prozentpunkt gesunken", sagt er. "Nur eine Minderheit von Hochfrequenzhändlern mag anderen Anlegern schaden."

Die allerdings haben es dann in sich: Sie suggerieren zum Beispiel kurstreibende Nachfrage, die den Massenmarkt anspringen lässt - nur um ihre zuvor georderten Aktien dann teurer zu verkaufen. Mit Predator- Algorithmen spähen sie andere Kundenorders aus, um dieses Wissen zu ihrem Vorteil einzusetzen.

Die Debatte hat einige der sonst sehr geheimniskrämerischen Hochfrequenzhändler veranlasst, aus dem Nähkästchen zu plaudern. So erklärt Tradeworx-Gründer Narang, dass seine mittelgroße Firma regelmäßig ein Prozent des Marktvolumens der US-Aktien handelt. Sein Algorithmus schafft es, mit etwas mehr als 50 Prozent der Trades Gewinne zu erzielen. Dank der riesigen Menge an Deals, die Tradeworx ausführt, verdient er an 86 von 100 Tagen und in 99 von 100 Wochen mit seinem Programm Geld.

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Discountbroker im Zwielicht

Risikolos sei das trotz allem nicht, findet Narang: "Nehmen wir einmal an, ein Kunde von Charles Schwab ordert 200 Aktien und ich stelle die Gegenseite. Ich erwarte, einen Gewinn von zehn Cent mit der Order zu machen, nehme aber ein beinahe 50-prozentiges Risiko in Kauf, dass ich mit dem Kauf Geld verliere. Der Discountbroker Charles Schwab dagegen geht nicht ins Risiko, kassiert aber neun Dollar für die reine Weiterleitung der Order."

Die Discountbroker könnten denn auch die Leidtragenden von "Flash Boys" werden. Analysten machen sich Sorgen um deren Einnahmen aus dem Verkauf von Orders an Dark Pools: "Der Markt wettet, dass Regulatoren den Verkauf von Kundenorders künftig verbieten könnten", sagt Jason Weyeneth, ein Analyst bei Sterne Agee. Diese Gebühren bringen ETrade und Schwab rund 100 Millionen Dollar im Jahr ein, TD Ameritrade sogar 227 Millionen Dollar.

Noch schlimmer: Die aktuelle Diskussion könnte den Privatkunden die Augen öffnen, dass eine Ordergebühr von neun Dollar im heutigen Marktumfeld Wucher ist. "Wie wäre es, wenn Charles Schwab und Co ein bisschen von ihren Kostenersparnissen an die kleinen Leute weitergäben?", fragt Narang. "Die Ordergebühren sind seit 2007 gleich geblieben, obwohl die Handelskosten rapide gesunken sind."

Lewis’ Buch ruft die Regulatoren recht spät auf den Plan. Die Hochfrequenzhändler haben den Zenit ihrer Profitabilität schon überschritten: Das Finanzanalysehaus Tabb Group schätzt, dass der Gewinn, den Hochfrequenzhändler mit US-Aktien machen, von 7,2 Milliarden Dollar im Jahr 2009 auf 1,3 Milliarden Dollar im Jahr 2014 gesunken ist. Das Rennen um die schnellste Verbindung zur Börse ist weitgehend gelaufen. Die Zeit, die es braucht, eine Order ab ihrer Platzierung auszuführen, ist bereits minimalisiert. Die Verbesserungen im Nanobereich, die man neuen Technologien wie Laserstrahlnetzwerken noch abringen kann, sind schwieriger zu monetarisieren.

Für Privatanleger kann "Flash Boys" dennoch ein echter Gewinn sein. Das Buch legt offen, wie unverschämt teuer die Discountbroker die Aktienorders machen und wie niedrig deren Kosteninfrastruktur eigentlich ist.

Zum Thema Geschwindigkeit für Privatanleger nur so viel: Wer mit einer Aktienidee einen schönen Gewinn erzielt, braucht über die zehn Cent, die ein Hochfrequenzhändler ihm dank Orderübertragung auf Mikrowellenniveau abgerungen hat, nicht groß nachzugrübeln.

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