Die Mehrheit im britischen Parlament liegt bei 326 Sitzen. Die EU-Seite kann sich also wohl nur zwischen verschiedenen Stadien der Frustration entscheiden, je nachdem, welches der folgenden Szenarien Realität wird.

MAY VERTEIDIGT ABSOLUTE MEHRHEIT NUR KNAPP



Laut Meinungsforschern sieht es so aus, als würde die britische Premierministerin Theresa May nicht wie erhofft gestärkt, sondern geschwächt aus den von ihr angesetzten Wahlen hervorgehen. Wenn überhaupt dürfte sie ihre absolute Mehrheit nur hauchdünn verteidigen. Für die EU würde das bedeuten, dass die Zeit der Unsicherheit auch ein Jahr nach dem Brexit-Referendum weiter anhält. Denn die Befürworter einer möglichst harten Verhandlungsposition in der regierenden konservativen Partei dürften May dann weiter unter Druck setzen. Womöglich tritt May auch zurück und überlässt einem Brexit-Hardliner wie Außenminister Boris Johnson das Feld.

Die Flügelkämpfe bei den Tories könnten jedenfalls den ohnehin schon extrem knapp bemessenen Zeitrahmen bis zum anvisierten EU-Austrittsdatum am 29. März 2019 noch stärker an den Rand des Scheiterns bringen. Sollte bis dahin keine Vereinbarung zustande gekommen oder die Verhandlungen schon vorher geplatzt sein, würden Briten ohne Abkommen aus der EU scheiden. Sowohl für die Wirtschaft auf beiden Seiten des Kanals als auch etwa für sicherheitsrelevante Themen wäre das der größte anzunehmende Unfall im Brexit-Prozess.

MAY GEHT GESTÄRKT AUS WAHL HERVOR



Nach einem Last-Minute-Comeback sieht es für May derzeit nicht aus. Sollte sie dennoch ihre Mehrheit solide ausbauen können, könnte sie sich womöglich gegen die Hardliner in den eigenen Reihen durchsetzen und beispielsweise Brexit-Minister David Davis oder Johnson kaltstellen. Dieses Szenario wird in Brüssel noch als das angenehmere der wahrscheinlichen Optionen angesehen. Zumindest könnten EU-Chefunterhändler Michel Barnier und sein Team auf mehr Planungssicherheit setzen und wüssten, mit wem sie es zu tun haben. Ein für beide Seiten erfolgreiches Ergebnis der Brexit-Gespräche wäre damit aber trotzdem noch lange nicht gesichert.

CORBYN WIRD PREMIERMINISTER



"In dem unwahrscheinlichen Fall, dass Jeremy Corbyn Premierminister wird, wüsste niemand, was zu tun ist, weder in London noch in Brüssel", fasst es Andrew Duff vom Zentrum für europäische Politik (EPC) zusammen. Den Labour-Chef hatte in Brüssel bis vor kurzem noch niemand als neuen Regierungschef in London auf dem Zettel, doch in jüngsten Umfragen konnte seine Partei mit den Tories fast gleichziehen. Sollte er in die Nähe der absoluten Mehrheit kommen, könnte er eine Minderheitsregierung anstreben, die etwa von den schottischen Nationalisten im Parlament toleriert wird. Zweifelhaft ist bei einem solchen Regierungswechsel, dass die Brexit-Verhandlungen wie von der EU angestrebt am 19. Juni beginnen.

Das Londoner Forschungsprojekt "Das Vereinigte Königreich in einem sich veränderndem Europa" erklärt zudem, dass das Labour-Wahlkampfprogramm in sich nicht stimmig sei: So werde zwar eine möglichst enge Bindung und ein Verbleib im EU-Binnemarkt nach dem Brexit angestrebt. Zugleich solle aber der freie Zuzug von EU-Bürgern auf die britischen Insel gestoppt werden. Die EU will aber die vier Grundfreiheiten auf keinen Fall zur Disposition stellen, wenn ein Land dem Binnenmarkt angehören will.

Überhaupt bemängeln die Forscher bei der Analyse der Wahlprogramme der Tories, Liberaldemokraten und von Labour, dass das Thema Brexit jeweils in nur einem Kapitel abgehandelt werde, als habe der EU-Austritt keine Auswirkungen auf andere Bereiche wie das britische Gesundheitssystem oder die Handelspolitik.

EINE KOALITION UNTER WELCHEN VORZEICHEN?



An den Börsen hegen manche Analysten die Hoffnung, dass eine Mitte-Links-Regierung einen sanfteren Brexit bedeuten würde. Die Chancen darauf sind derzeit allerdings gering, denn die Liberaldemokraten wollen weder mit den Konservativen noch mit Labour eine Koalition bilden, die schottischen Nationalisten nicht mit den Tories. Eine Koalition hat es seit dem Zweiten Weltkrieg in London ohnehin nur einmal gegeben, nämlich unter dem konservativen Premierminister David Cameron von 2010 bis 2015. Egal, mit welchen Vorzeichen ein Bündnis gebildet würde - für die komplexen und kontroversen Brexit-Verhandlungen würden instabile Verhältnisse in London wohl zunächst noch mehr Verzögerungen und Unsicherheit bedeuten.

rtr