Lord Mountbatten, der letzte Vizekönig von Indien, hatte kurz vor der Unabhängigkeitserklärung des Landes im Sommer 1947 so eine Ahnung. "Es scheint mir völlig unglaublich", schrieb er, "dass es nördlich, westlich und östlich von Indien Öl gibt, aber dass in Indien selbst - von Assam abgesehen - kein Öl gefunden wurde." Mountbattens Bauchgefühl war richtig. Kurz nach seinem höflichen Rauswurf und der Stabübergabe an Jawaharlal Nehru suchte Indien und wurde fündig.

1956 wurde die Oil & Natural Gas Corporation (ONGC)gegründet, 1958 der erste Fund im nordwestlichen Bundesstaat Gujarat gefeiert, in den 60er-Jahren schließlich Bombay High, ein gewaltiges Offshorereservoir, entdeckt. Seither setzte Indien reihenweise Öl- und Gaslager auf die Landkarte der Geologen, vor allem in Gujarat, Rajastan und vor der Küste Andra Pradeshs im Südosten des Subkontinents. Heute steht die größte Ölraffinerie der Welt keineswegs am Persischen Golf oder in Texas, sondern in Jamnagar, Gujarat. Sie gehört Reliance Industries (RIL), dem rasch wachsenden Konglomerat des zurzeit reichsten Inders, Mukesh Ambani.

Indien ist zum Energieriesen aufgestiegen. Dennoch hat das Land ein Problem: Während Indiens IT-Unternehmen wachstumsstark, exzellent gemanagt und finanziell gesund sind, ist der Energiesektor mit wenigen Ausnahmen - wie RIL - ein staatlich koordiniertes Katastrophengebiet (siehe Investor-Info). Es belegt eindrucksvoll, wie Planwirtschaft und Bürokratie potenzielle Giganten abwirtschaften können. In weiten Teilen der westlichen Welt hat man dies erkannt und den Energiesektor längst privatisiert. Indien, seit der Unabhängigkeit sozialistisch angehaucht, hinkt weit hinterher.

Doch nun gibt es einen Hoffnungsschimmer: Der Ende Mai angetretene Regierungschef Narendra Modi hat sich die Liberalisierung der indischen Wirtschaft auf die Fahne geschrieben. Das könnte die schlecht gemanagten Firmen nach und nach aus ihrem staatlich verordneten Korsett befreien und international wettbewerbsfähiger machen. Das ist dringend nötig, denn Indien wird noch jahrzehntelang von fossilen Energieträgern abhängig bleiben.

Beispiel Kohle. Sie ist für das Land noch wichtiger als Öl. Indien ist der viertgrößte Energiekonsument der Welt und sitzt zugleich auf den fünftgrößten Kohlereserven. Kohle ist der billigste Energieträger im Land und liefert etwa die Hälfte der Energie sowie zwei Drittel des Stroms. Der Haken: 80 Prozent der indischen Kohle werden vom staatlich kontrollierten, seit 2010 börsennotierten Monopolisten Coal India produziert. Er ist das fünftgrößte Börsenunternehmen Indiens, der größte Kohlekonzern der Welt - und wie die meisten indischen Energiekonzerne ein Sanierungsfall.

Würde Coal India besser funktionieren, läge Indiens Wirtschaftswachstum höher als die aktuellen fünf bis sechs Prozent, glauben Analysten der Credit Suisse. Trotz der gewaltigen Kohlereserven schafft Indien die Selbstversorgung nicht einmal ansatzweise, sondern ist der drittgrößte Kohleimporteur der Welt. Zudem haben sich seit der Jahrtausendwende die Importe von Öl und Ölprodukten mehr als verzehnfacht. Im Fiskaljahr 2013/14 zahlte das Land dafür 155,8 Milliarden USDollar - ein Fiasko für Handelsbilanz und Staatsfinanzen.

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Skandale und Missmanagement

Vor allem der ineffiziente Verwaltungsapparat des Landes macht Unternehmen wie Coal India zu schaffen. Als der neue Bergbauminister unter Modi jüngst seinen Dienst antrat, fand er 63 395 unbearbeitete Anträge für Konzessionen auf den Schreibtischen der Behörden. Die zähen Verfahren bereiten der Korruption den Weg, finanzielle Aufmerksamkeiten sind schließlich nur dann nötig, wenn es ein Problem gibt. Mit "Coalgate" drehte sich zudem einer der größten Skandale der vergangenen Jahre um die Lizenzvergabe im Kohlebergbau.

Auch die Bevölkerung leidet unter der Ineffizienz. Da der Großteil des Stroms in Kohlekraftwerken erzeugt wird, machen die chronischen Produktionsengpässe die Stromversorgung unzuverlässig. Da hilft es voraussichtlich auch wenig, dass Coal India im laufenden Geschäftsjahr 507 Millionen Tonnen Kohle fördern will. In der Vergangenheit war das Unternehmen schlecht im Erreichen von Planzielen. Hinzu kommt, dass die tollsten Förderzahlen belanglos sind, wenn die Kohle nicht abtransportiert werden kann - die Kohlereviere sind mangelhaft an das staatliche Gleissystem angebunden. Zudem ficht Coal India einen Rechtsstreit mit dem staatlichen Stromkonzern NTPC aus, in dessen Mittelpunkt die angeblich schlechte Qualität der gelieferten Kohle steht.

Dennoch ist der Börsenkurs von Coal India in den vergangenen Monaten flott angestiegen. Der Konzern ist ein derartiges Fiasko, dass es eigentlich nur noch aufwärts gehen kann. Indiens Anleger setzen zudem auf den erhofften Umbau des Konzerns im Zuge der Liberalisierung.

Etwas erfreulicher sieht es im Ölsektor aus. ONGC ist Indiens zweitgrößter börsennotierter Konzern nach dem IT-Spezialisten TCS. "Indiens Energieanker", so das Selbstbild des Unternehmens, holt etwa 70 Prozent des indischen Öls aus der Erde, was 30 Prozent der Nachfrage entspricht. Bei Gas liegt der Anteil bei 62 Prozent. Aber auch das ONGC-Management kann nicht glänzen. Die indischen Ölreserven sind groß, die Produktion bei ONGC im vergangenen Jahrzehnt war aber rückläufig.

Noch schwerer wiegt, dass fossile Energieträger in Indien hoch subventioniert werden - was die Staatskasse ebenso belastet wie die Unternehmensgewinne. Dass der Kohlepreis für Verbraucher staatlich verordnet billig gehalten wird, kostete ONGC allein im Geschäftsjahr 2013/14 nach einer Schätzung des Unternehmens rund sieben Milliarden Euro, 14 Prozent mehr als im Vorjahr. Ein Politprinzip, das beispielsweise auch den brasilianischen Ölgiganten Petrobras chronisch ausbremst und für Anleger unattraktiv macht.

Indian Oil wiederum, vor allem in der Ölverarbeitung aktiv, ist mit zehn Raffinerien das umsatzstärkste Unternehmen in Indien. Der Staat hält knapp 80 Prozent der Anteile, ausländische Investoren werden auf Abstand gehalten. Den Börsenwert von Indian Oil verdient der US-Konzern ExxonMobil in weniger als fünf Monaten.

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Energiesektor soll sich öffnen

Indiens Energiesektor braucht keine Reform, sondern eine Revolution. Das sieht auch die Regierung Modi. Sie will den Monopolisten Coal India zerschlagen und den gigantischen Rohstoff- und Energiesektor für ausländische Investoren öffnen. Die sollen Know-how ins Land bringen, die Produktion ankurbeln und Indiens Importabhängigkeit beenden. Eine große Idee, die in der Praxis jedoch auf Hürden stoßen könnte. Die Rahmenbedingungen bei kapitalintensiven Großprojekten in Indien waren in der Vergangenheit so abschreckend, dass viele Weltkonzerne dankend abwinkten.

Langfristig könnte eine Liberalisierung den indischen Rohstoffsektor jedoch grundlegend erneuern und Anlegern mit langem Atem und viel Mut eine große Chance bieten. Gelingt Modi der Befreiungsschlag, könnten indischen Rohstoffkonzerne in den nächsten 20 Jahren einen großartigen Lauf haben.

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