Das Wetter passt nicht zur Charmeoffensive der Gastgeber. Im Dauerregen tiefhängender Wolken wirkt Istanbul grau und kalt. Dabei will die staatliche Investitionsagentur doch für das gute Investitionsklima in der Türkei werben.

Stattdessen decken sich die niedrigen Temperaturen mit der aktuellen Stimmung. Seit dem verhinderten Putsch am 15. Juli lässt der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Säuberungswellen durch Militär und Ministerien rollen, Zeitungsredaktionen schließen, Unternehmen verstaatlichen und seine Gegner zu Zehntausenden inhaftieren. Die Beziehung zur Europäischen Union ist auf einen Tiefpunkt gefallen. Der Börsenindex ISE 100 hält sich einigermaßen, allerdings nur in Landeswährung gerechnet. Und Erdogans Streben nach noch mehr Macht schürt Crash-Ängste.

Aus den Fenstern der Deutsch-Türkischen Handelskammer AHK sieht es Ende November so aus, als gingen die Unruhen scheinbar spurlos am täglichen Leben vorüber. Die Gebäude liegen direkt am Bosporus. In der Meerenge gondeln Fischerboote, über die Uferstraße davor rauscht der Verkehr und drinnen erklärt Jan Nöther, dass auch die Wirtschaft keinen Schaden genommen habe. "Es läuft alles wie vor dem Putsch. Unsere Mitglieder melden keinerlei Beeinträchtigung des Tagesgeschäfts", so der Geschäftsführer der Organisation.

Auf Seite 2: Normalität, Terror und Optimismus





Normalität, Terror und Optimismus



Wie brüchig diese Normalität ist, zeigte das vergangene Wochenende. In der Nacht zum 11. Dezember zerrissen Bomben erneut die Alltagsstimmung in der Stadt. Die TAK, eine Splittergruppe der verbotenen Arbeiterpartei PKK, verübte zwei Sprengstoffanschläge, die 44 Opfer forderten.

Bis vor Kurzem zeigte sich die Konjunktur der Türkei trotz der seit Jahren wachsenden Unsicherheit erstaunlich widerstandsfähig. Im dritten Quartal aber schrumpfte die Wirtschaft erstmals seit dem Krisenjahr 2009 wieder. Das Bruttoinlandsprodukt sank binnen Jahresfrist um 1,8 Prozent. Ökonomen hatten nur mit einem Minus von 0,5 Prozent gerechnet. An ein Ende guter Geschäfte glauben deshalb aber nur wenige Unternehmen. Ford Otosan etwa, der als größter Exporteur des Landes von Nutzfahrzeugen gilt, sieht keinerlei negative Folgen für die eigene Entwicklung. Ähnlich äußern sich auch andere Unternehmen.

Der Optimismus entspringt teilweise der Vergangenheit. 2002 übernahm Erdogans AKP die Regierung, liberalisierte die Wirtschaft, sanierte den Staatshaushalt und begann Beitrittsverhandlungen mit der EU. Von da an boomte der Bosporus. Bis 2015 wuchs die Wirtschaft im Schnitt um 4,7 Prozent und legte in einigen Jahren sogar um mehr als neun Prozent zu.

Allein auf die anfänglichen Reformen ist der Aufschwung aber nicht zurückzuführen. Zum Erfolg verhalf auch die junge Bevölkerung, eine wachsende Mittelschicht und die seit 1996 geltende Zollunion mit der EU. Ford Otosan etwa verkaufte 2015 gut 63 Prozent seiner Fahrzeuge in die EU. "Ohne die Zollunion wäre Ford Otosan in seiner heutigen Form nicht möglich gewesen. Die EU-Perspektive ist für uns sehr wichtig", erklärt Landesgeschäftsführer Haydar Yenigün. Doch seit das EU-Parlament für das Aussetzen der Beitrittsverhandlungen stimmte, sind die Chancen auf eine Mitgliedschaft der Türkei in der Union kleiner denn je.

Die Situation macht den Job von Mehmet Simsek nicht leichter, als er an einem Abend in einen Konferenzraum des Swiss Hotel rauscht. Drahtig und charismatisch vermittelt der stellvertretende Premierminister vor Pressevertretern ein Bild der Türkei, das mehr ist als das, was die Welt in Erdogan sieht. In seiner Funktion ist der gelernte Ökonom verantwortlich für Wirtschaft und Finanzen des Landes. Europa ist für ihn kein Feindbild.

Stattdessen sieht der frühere Investmentbanker in der EU eine "Inspiration, einen Anker, eine Messlatte für Reformen und unverändert das beste Vorbild für die Türkei". Und es sei "im Interesse der Türkei und der EU, eine starke Partnerschaft beizubehalten", betont der 49-Jährige. Die Worte sollen vor allem internationale Geldgeber beruhigen. Ausländische Investoren stellen die Rechtsstaatlichkeit der Türkei zunehmend infrage und halten sich mit Engagements zurück. Der versiegende Kapitalfluss wird zum Problem. Die Türkei importiert seit Jahren mehr Waren, als sie ins Ausland absetzt. Dieses Außenhandelsdefizit lässt sich nur mit externen Geldgebern finanzieren, ohne sie gerät die Wirtschaft ins Stottern.

Dieses Jahr werden mit etwa zehn Milliarden Dollar gut 40 Prozent weniger ausländische Direktinvestitionen in das Land geflossen sein als 2015. Für Simsek aber gibt es nur noch zwei Hürden, um verlorenes Investorenvertrauen zurückzugewinnen: das Ende des Notstands und das Referendum über die Verfassung. Beides könnte noch im Frühjahr 2017 geschehen.

Bei der Volksbefragung wird entschieden, ob in dem Land ein Präsidialsystem eingeführt wird. Die wichtigste Änderung wäre: Der Posten des Premierministers wird gestrichen. Die Befugnisse des Amtes sollen auf den Staatspräsidenten übergehen. Erdogan würde sich damit jene Macht sichern, die er wegen des Notstands bereits de facto ausübt. Dann könnte er das Land mittels Dekreten weitgehend allein regieren, seine Minister selbst ernennen und Chef der AKP bleiben. Laut Simsek sollen die Änderungen politische Stabilität und damit Handlungsfähigkeit garantieren. So soll es gelingen, die Wirtschaft "mit einem großen Stoß" an Strukturreformen wieder in Fahrt zu bringen.

Aber so farbenfroh der Vizepremier die Zukunft auch schildern mag, so schwer fällt es, seine Sicht zu teilen. Die Wirtschaft lief bereits vor dem Putschversuch nicht mehr rund. Seit 2013 steigt das Bruttoinlandsprodukt immer langsamer und dürfte dieses Jahr nur noch um knapp drei Prozent zulegen. Bei 800 000 jungen Menschen, die jedes Jahr ins arbeitsfähige Alter kommen, wären doppelt so hohe Wachstumsraten notwendig, um ausreichend Jobs zu schaffen. Die Arbeitslosenquote liegt bereits bei fast elf Prozent.

Auf Seite 3: Boom auf Pump





Boom auf Pump



Doch die Probleme gehen tiefer. 2006 waren laut AHK vier Prozent aller Exporte Hochtechnologie, vergangenes Jahr lag diese Quote bei 4,3 Prozent. Statt von der Industrie wurde der Aufschwung zuletzt vom Dienstleistungssektor und vom Binnenkonsum getragen. Aber um ihre privaten Ausgaben zu finanzieren, haben sich die Türken in den vergangenen Jahren zunehmend verschuldet - der Boom am Bosporus ist einer auf Pump.

Zusätzlicher Druck kommt aus den USA. Seit klar ist, dass die Zinsen in Amerika steigen, wertet die Lira im Vergleich zum Dollar immer stärker ab (siehe Grafik Seite 4). Das treibt die Inflation, die aktuell bei etwa sieben Prozent liegt. Viel Raum, die Wirtschaft über billiges Geld anzuschieben, bleibt daher nicht. "Der Ausblick für die Türkei ist nicht gut, aber zu einem Zusammenbruch wird es nicht kommen. Die Türkei kann einen Abschwung überstehen und dürfte in den nächsten beiden Jahren ein Wirtschaftswachstum zwischen 1,5 und 2,5 Prozent erreichen", glaubt Henri Barkey, Direktor des Nahostprogramms am renommierten Woodrow-Wilson-Forschungszentrum in Washington. Andere Schätzungen sehen das Wachstum in den kommenden Jahren zwischen drei und vier Prozent.

Erdogans Staatswirtschaft



Dabei dürfte der Staat selbst zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor werden. Während sich die Bürger immer stärker verschulden, hat der Staat Geld. Die Haushaltsschulden liegen bei rund einem Drittel des Bruttoinlandprodukts und damit weit unter der Maastricht-Grenze von 60 Prozent. Das ermöglicht es, die Konjunktur über steigende Regierungsausgaben zu stützen. Auch deshalb erwarten viele Beobachter, dass der 62-jährige Erdogan die Geschicke der Türkei noch lange lenkt. Im Jahr 2019 wird wieder gewählt. Es gilt als ausgemacht, dass Erdogan antritt und nach heutigem Stand auch gewinnt. Wiederholt sich die Geschichte bei den Wahlen fünf Jahre später, könnte der ehemalige Bürgermeister Istanbuls bis 2029 an der Macht bleiben.

Trotzdem sehen einige die Türkei als Investitionsgelegenheit. So auch William Scholes, der für Aberdeen den Eastern European Equity Fund managt. "Die Verfassungsänderung ist zum Großteil eingepreist, der Markt erwartet eine weitere Machtkonzentration im Amt des Präsidenten. Dennoch könnte es am Tag des Referendums einen Ausverkauf an der Börse geben." Wer sehr risikobereit ist, kann danach über Indexfonds auf eine Erholung der Börse setzen (siehe unten): Der Lyxor ETF Turkey enthält die 20 größten und liquidesten Werte, die beiden ETFs auf den MSCI Turkey streuen etwas breiter in 24 große und mittelgroße Unternehmen.



Auf Seite 4: Türkei auf einen Blick