Wie schlimm die Corona-Krise die deutschen Unternehmen getroffen hat, werde erst ab Herbst richtig sichtbar, sagt der renommierte Insolvenzverwalter Lucas Flöther. Von Sabine Gusbeth

€uro: Herr Flöther, trotz Corona-Krise gehen derzeit in Deutschland kaum Unternehmen pleite. Wie passt das zusammen?

Lucas Flöther: Die Bundesregierung hat den Unternehmen eine Beruhigungspille verabreicht, um die Folgen der Krise abzufedern. Neben den zahlreichen finanziellen Hilfen wurde im März die Pflicht, Insolvenz anzumelden, vorübergehend ausgesetzt. Das heißt, Unternehmen, die infolge der Corona-Krise eigentlich pleite sind, mussten bislang keine Insolvenz anmelden.

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier hat Anfang September gesagt, die Talsohle sei durchschritten. Teilen Sie diese Einschätzung mit Blick auf Insolvenzen?

Ich bin da skeptischer, aber vielleicht sind Insolvenzverwalter ja auch Berufspessimisten. Im Moment sind die Unternehmen durch die staatlichen Hilfsmaßnahmen gewissermaßen sediert. Jetzt zu sagen, dem Patienten gehe es ja eigentlich schon wieder gut, finde ich ziemlich kühn. Wir werden erst im Herbst sehen, wie stark die deutschen Unternehmen tatsächlich von den Folgen der Corona-Krise betroffen sind. Zahlreiche Firmen haben dramatische Umsatzeinbrüche erlitten, teilweise sogar ganze Branchen wie Gastronomie, Hotels, Kultur, Messe und Reise. Das werden viele von ihnen nicht ausgleichen können. Die Insolvenzwelle ist dort vielfach noch gar nicht angekommen. Deshalb glaube ich nicht, dass wir die Corona-Krise schon überwunden haben. Im Gegenteil, sie wird deutlich länger dauern als gedacht.

Warum gehen Sie davon aus, dass wir im Herbst ein klareres Bild über das Ausmaß der Krise bekommen?

Der Gesetzgeber hat erkannt, dass man die Beruhigungspille nur vorübergehend verabreichen kann, weil sonst Zombie-Unternehmen entstehen, die nur dank der staatlichen Hilfen überleben und so den Wettbewerb verzerren. Zahlungsunfähige Unternehmen sind deshalb ab 1. Oktober wieder verpflichtet, Insolvenz anzumelden.

Wann gilt eine Firma als zahlungsunfähig?

Wenn sie nicht mehr in der Lage ist, innerhalb von drei Wochen alle fälligen Verpflichtungen zu bezahlen, also zum Beispiel Miete, Löhne oder Lieferanten. Wenn das passiert, ist die Krise also schon sehr weit fortgeschritten. Trotzdem stellen vor allem viele kleine und mittelständische Unternehmen erst einen Insolvenzantrag, wenn sie bereits zahlungsunfähig sind. Sie haben oft keine guten Frühwarnsysteme und ziehen deshalb zu spät die Reißleine. Denn je früher eine Firma einen Insolvenzantrag stellt oder sich in ein sogenanntes Schutzschirmverfahren begibt, desto größer sind die Chancen einer Sanierung. Wenn Sie erst zum Zahnarzt gehen, wenn der Zahn schon schwarz ist, kann der ihn schließlich auch nicht mehr retten.

Sie erwarten also ab Oktober eine deutliche Zunahme von Insolvenzen bei kleinen und mittleren Firmen. Wie sieht es bei den größeren Unternehmen aus?

Die großen Unternehmen sind meistens besser beraten und lassen es nicht bis zur Zahlungsunfähigkeit kommen. Die Verantwortlichen wissen, dass sie mit ihrem privaten Vermögen haften, wenn sie zu spät Insolvenz anmelden. Diese Unternehmen haben eher ein Überschuldungsproblem.

Was heißt das?

Ob ein Unternehmen überschuldet ist, wird in zwei Stufen geprüft: erstens, ob alle fälligen Verbindlichkeiten in diesem und im nächsten Geschäftsjahr bezahlt werden können. Dieses "Durchfinanziertsein" nennt man positive Fortbestehensprognose. Ehrlich gesagt, war es schon vor Corona nicht einfach, diesen Test zu bestehen. Welches Unternehmen hat so ein starkes Geschäftsmodell, dass es bis zu zwei Jahre sicher durchfinanziert ist? Momentan fahren fast alle Unternehmen auf Sicht und planen eher wochenweise, maximal monatsweise, aber nicht jahresweise. Deshalb bleibt dieser Insolvenz-Tatbestand auch noch länger ausgesetzt.

Und was ist die zweite Stufe?

Wenn die Fortbestehensprognose negativ ist und zudem die Verbindlichkeiten höher sind als die Vermögenswerte, dann ist ein Unternehmen überschuldet. Dieses Problem haben im Moment ziemlich viele.

Hat das Problem durch die Corona-Hilfskredite zugenommen?

Ja, das muss man deutlich sagen. Bei Unternehmen, die jetzt ein Darlehen aufgenommen haben, ist die Gefahr groß, dass sie in die Überschuldung laufen. Denn sie haben ihre Verbindlichkeiten erhöht und das Vermögen ist bestenfalls gleich geblieben wie vor der Corona-Krise. Wenn sie nun merken, dass die Aussichten deutlich schlechter sind als zum Zeitpunkt der Kreditaufnahme, haben sie ein klassisches Überschuldungsproblem. Vielen Unternehmen ist das nicht bewusst, weil es anders als die Zahlungsunfähigkeit oft nicht sofort spürbar ist. Aber Überschuldung kann zu einer Todesspirale führen.

Die Insolvenzantragspflicht bei Überschuldung bleibt bis Jahresende ausgesetzt. Halten Sie eine weitere Verlängerung für denkbar? Immerhin ist im kommenden Jahr Bundestagswahl und eine Welle von Großinsolvenzen käme da denkbar ungünstig.

Darüber möchte ich nicht spekulieren. Aber unabhängig von der Bundestagswahl gibt es ein anderes Argument, das möglicherweise für eine Verlängerung spricht.

Und zwar?

Die Bundesregierung arbeitet gerade daran, die EU-Richtlinie zum sogenannten Präventiven Restrukturierungsrahmen in deutsches Recht umzusetzen. Damit sollen künftig außergerichtliche Sanierungsverfahren möglich werden. Das würde vor allem großen Unternehmen helfen, die eigentlich operativ keine Probleme haben, sich jetzt aber Corona-bedingt hoch verschuldet haben. Also Unternehmen, die eine reine Entschuldung brauchen. Aus meiner Sicht würde es Sinn machen, die Insolvenzantragspflicht bei Überschuldung auszusetzen, bis dieses Gesetz in Kraft tritt. Das wird voraussichtlich noch bis zum Frühjahr 2021 dauern.

In der Industrie gibt es durchaus Kritik daran, dass die Corona-Lockerungen im Insolvenzrecht teilweise verlängert wurden. Können Sie das erklären?

Viele Firmen fürchten, dass dadurch die Zahl der Zombie-Unternehmen steigt und den Wettbewerb kaputt macht. Solche Zombies haben kein tragfähiges Geschäftsmodell. Sie verkaufen zum Beispiel Waren zu nicht kostendeckenden Preisen. Dadurch machen sie die Preise kaputt und können gesunde Wettbewerber mit in den Strudel der Krise ziehen. Auch Lieferanten, Kunden und andere Vertragspartner werden oft in Mit- leidenschaft gezogen. In normalen Zeiten sorgt das Insolvenzrecht dafür, dass solche Zombies vom Markt verschwinden.

Vor der Corona-Krise war die Zahl der Unternehmensinsolvenzen mit 19400 im Jahr 2019 historisch niedrig. Gleichzeitig schätzt der Inkassodienstleister Creditreform, dass 15 Prozent aller Firmen Zombie-Unternehmen sind. Woran liegt das?

Die historisch niedrigen Insolvenzzahlen lagen in erster Linie an der hervorragenden Konjunktur. Eine wichtige Rolle spielen aber auch die Zinsen zum Nulltarif und die Liquiditätsschwemme, die wir hatten und nach wie vor haben. Das hat allerdings dazu geführt, dass Firmen, die eigentlich insolvenzreif waren, sich auf irgendeinem Weg doch noch Geld beschaffen konnten. Deshalb hatten wir schon vor der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht viele Zombies.

Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf solche Unternehmen, die schon vorher strukturelle Probleme hatten?

Das lässt sich am Beispiel der Automobilzulieferer-Industrie gut veranschaulichen. Dort hat die Corona-Krise wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Zulieferer, die am Verbrennungsmotor oder am Antriebsstrang hängen, hatten schon vorher ein Problem mit Blick auf die Fortbestehensprognose. Ein Nachfrageeinbruch im April und Mai plus eingetrübte Aussichten für die kommenden Monate stellen diese Unternehmen vor große Herausforderungen. Ähnliches gilt für den Einzelhandel. Da hat die Corona-Krise die Amazonisierung sozusagen mit einem Turbo versehen.

Warum gehen viele Firmen zu spät zum Insolvenzgericht oder Sanierungsexperten? Liegt das daran, dass eine Insolvenz hierzulande als Scheitern wahrgenommen wird?

Ja, das ist tatsächlich noch so. Es hat sich zwar in den vergangenen Jahren schon einiges geändert, und dazu hat das Schutzschirmverfahren, gewissermaßen die mildeste Form der Insolvenz, maßgeblich beigetragen. Trotzdem sind wir in Deutschland erst auf dem Weg zu einer Sanierungskultur. Wir können von den angelsächsischen Ländern lernen, wo man demjenigen, der die Reißleine rechtzeitig zieht, auf die Schulter klopft und viel Erfolg beim Neuanfang wünscht. Es wird wahrscheinlich noch eine Generation dauern, bis wir in Deutschland so weit sind. Der erwähnte präventive Re- strukturierungsrahmen wird auf jeden Fall dabei helfen, weil durch dieses außergerichtliche Sanierungsverfahren das vermeintlich böse I-Wort vermieden werden kann.

Sie sind bekannt geworden als Sanierer bei Großinsolvenzen wie Air Berlin, Condor oder Unister. Wie wird man bei solchen Verfahren als Insolvenzverwalter ausgewählt?

Ein Insolvenzverwalter, auch ein Sachwalter, wird vom Insolvenzgericht bestellt. Seit einigen Jahren haben die betroffenen Gläubiger dabei ein gewichtiges Wort mitzureden. Die wollen natürlich jemanden, dem sie zutrauen, möglichst viel für sie herauszuholen. Dabei sind die Interessen je nach Gläubigergruppe durchaus unterschiedlich: Die Arbeitnehmer versuchen, ihren Arbeitsplatz zu erhalten, Kreditgeber fordern ihr Geld zurück, Lieferanten oder Kunden hoffen auf den Erhalt des Vertragspartners. Das Geschick eines Insolvenzverwalters oder Sachwalters ist es, die unterschiedlichen Interessen möglichst gut in Einklang zu bringen.

Was machen Sie als Erstes, wenn Sie ein großes Verfahren übernehmen?

Als Erstes rufe ich meine Frau an und sage ihr: "Ich bin jetzt mal weg" (lacht). Denn bei Großverfahren bin ich meistens für mehrere Wochen vollkommen abgetaucht.

 

Lucas F. Flöther ist einer der bekanntesten Insolvenzverwalter Deutschlands. Er wurde 1974 in Leipzig geboren. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften und Promotion in Halle spezialisierte sich Flöther auf Unternehmenssanierungen. Seit 1999 wird er regelmäßig zum Insolvenzverwalter oder Sachwalter bestellt, etwa bei der Fluggesellschaft Air Berlin, der Unister-Gruppe, dem Fahrradhersteller Mifa und der Wohnungsbaugesellschaft Leipzig-West. Er ist Partner der Kanzlei Flöther & Wissing mit mehr als 100 Mitarbeitern und Sprecher des Gravenbrucher Kreises, einer Vereinigung der führenden Insolvenzverwalter Deutschlands. Flöther ist verheiratet und hat zwei Kinder.