Selbst die von EZB-Chef Mario Draghi nun bis März 2017 in Aussicht gestellte Summe von 1,5 Billionen Euro löste am Donnerstag riesige Enttäuschung aus, vor allem am Aktienmarkt. "Die Reaktion zeigt, wie abhängig die Finanzmärkte von immer mehr Liquidität und immer niedrigeren Zinsen geworden sind", sagt Chefökonom Thorsten Polleit von Degussa Goldhandel. Ihnen droht ein kalter Entzug, wenn die EZB das Lebenselixier entzieht.

Zugleich riskiert Draghi, den rechten Zeitpunkt für die Abkehr vom Niedrigzins zu verpassen, mahnen Kritiker. "Durch die langfristige Festlegung auf eine lockere Geldpolitik wird ein Ausstieg immer schwieriger", sagt die Wirtschaftsweise Isabel Schnabel. Wenn sich die Konjunktur in naher Zukunft stärker erhole und eine Straffung der Geldpolitik erforderlich mache, dürften die Währungshüter ein ernstes Problem bekommen. Sie müssten die Zinsen laut der Expertin dann schneller anheben als es die Märkte verkraften würden: "Das könnte eine neue Finanzkrise hervorrufen."

AM TROPF DER EZB



Derzeit sorgt die EZB mit ihren Geldspritzen noch dafür, dass die Finanzmärkte bei Laune gehalten werden. Idealerweise soll auch die Wirtschaft im Währungsraum davon profitieren und das Bruttoinlandsprodukt schneller zulegen. Dass sich die Notenbank in diese Position als Wachstumsbeschleuniger hinein manövriert hat, sieht der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, kritisch: "Es ist enttäuschend, dass die Euro-Zone auch sieben Jahre nach dem Beginn der Finanzkrise noch immer nicht in der Lage ist, auf eigenen Beinen zu stehen und dass Zentralbanken mit Garantien und extremen geldpolitischen Maßnahmen eingreifen müssen."

Trotz aller Hilfen ist das Wachstum verglichen mit dem bereits auf vollen Touren laufenden Wirtschaftsmotor in den USA noch langsam, wo zudem weitaus mehr Jobs entstehen: Die EZB veranschlagt für 2015 einen Zuwachs des Bruttoinlandsproduktes von 1,5 Prozent in der Euro-Zone. 2017 dürften es 1,9 Prozent werden. Doch mit der jetzigen Ausweitung der Anleihenkäufe ist eine Straffung der Geldpolitik in weite Ferne gerückt. Dann werden fast zehn Jahre seit dem Ausbruch der weltweiten Finanzkrise ins Land gegangen sein. Dennoch wird in Europa an der Zinsfront wohl weiter der Ausnahmezustand herrschen, während die US-Notenbank Fed voraussichtlich schon Mitte Dezember die Rückkehr zur Normalität einleitet.

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SCHATTENSEITEN DER GELDFLUT



Diese asynchrone Geldpolitik auf beiden Seiten des Atlantiks dürfte über kurz oder lang zu Verwerfungen an den Finanzmärkten führen, warnen Skeptiker: "Mehr Risiko ist die Schattenseite des Elixiers Liquidität", meint Ökonom Thomas Böckelmann vom Vermögensverwalter EuroSwitch. Auch wenn die EZB mit ihren Maßnahmen primär die aus ihrer Sicht viel zu niedrige Inflation anheizen möchte, soll das Anleihen-Kaufprogramm auch die Kreditvergabe beflügeln und Firmen so zu mehr Investitionen animieren. Nach Ansicht des Experten hat die Nullzinspolitik auch hier ihre dunklen Seiten: "Bereits heute zeigt sich, dass Unternehmen lieber billiges Geld aufnehmen, um eigene Aktien zurückzukaufen statt neue Projekte zu erschließen."

Zudem sorge die EZB mit dem Erwerb von Anleihen von hoch verschuldeten Euro-Staaten dafür, dass der Kapitalmarkt für diese Länder teilweise zum Selbstbedienungsladen geworden sei: "Aktuell sind bereits zwei Billionen Euro an Staatsanleihen negativ verzinst: Das heißt, Finanzminister bekommen sogar noch Geld für die Kreditaufnahme", erläuterte Böckelmann. Das führe de facto dazu, dass der Druck auf Staaten wie Frankreich, Italien oder Belgien abnimmt, ihre Schuldenprobleme rasch in den Griff zu bekommen.

Diese Sorge treibt auch Bundesbank-Chef Jens Weidmann um, der im EZB-Rat jedoch als Kritiker der laxen Linie in der Minderheit ist: Er warnt vor "Risiken und Nebenwirkungen" der Krisen-Medizin, wenn das billige Geld im Finanzsystem zu lange zirkuliert und zu Übertreibungen führt. Der Chef des Berliner Forschungsinstituts DIW, Marcel Fratzscher, erläuterte den Beipackzettel für das vermeintliche Allheilmittel der EZB jüngst so: "Die Geldpolitik hat negative Nebenwirkungen - zum Beispiel das Risiko von Blasenbildungen an den Aktienmärkten."

Reuters