"Das erspart uns eine wochenlange Rezessionsdebatte", freut sich ein ranghohes Regierungsmitglied. Das Plus ist aus Sicht der Wirtschaft aber noch mickrig genug: So lässt sich der Druck auf die große Koalition aufrechterhalten, um nach Mindestlohn und Rente mit 63 weitere Belastungen zu verhindern - und stattdessen wirtschaftsfreundliche Reformen durchzusetzen.

Europas größte Volkswirtschaft und langjährige Konjunkturlok in der Krise - diese negativen Schlagzeilen wären auf die Regierung zurückgefallen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Kollegen mussten zuletzt schon ungewohnt viel Kritik von Wirtschaftsweisen, führenden Forschungsinstituten sowie Verbänden einstecken. Sie machten die Regierung mitverantwortlich für die Konjunkturflaute. "Man fährt mit großer Geschwindigkeit auf eine Wand zu und irgendwann wird man da mal dran knallen und man müsste jetzt bremsen", warnt der Chef der Wirtschaftsweisen Christoph Schmidt mit Blick auf die kostspieligen Reformen wie die Rente mit 63. Stattdessen trete die Regierung "noch mal auf das Gaspedal und sagt, so ein bisschen mehr Geschwindigkeit macht ja heute eigentlich nichts".

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WIE SCHNELL SICH VERBRAUCHER VERUNSICHERN LASSEN

Eine Rezession hätte vor allem die Verbraucher verunsichert. Sie sind derzeit die große Konjunkturstütze, da sie dank Rekordbeschäftigung, steigenden Löhnen, niedriger Inflation und geringen Sparzinsen beständig mehr konsumieren. Seit Ex-Kanzler Ludwig Erhard gilt aber auch die Weisheit, wonach die Wirtschaft zu 50 Prozent Psychologie ist. Wie sensibel die Verbraucher auf schlechte Nachrichten reagieren, zeigte sich im September: Die von den Nürnberger GfK-Konsumforschern gemessenen Konjunkturerwartungen sackten wegen der vielen internationalen Krisen binnen eines Monats so stark ab wie noch nie seit Beginn der Verbraucherumfrage 1980. "Das hat auch die Einkommenserwartungen und die Bereitschaft zu größeren Anschaffungen gedrückt", sagt GfK-Experte Rolf Bürkl. "Dass es jetzt nicht zu einer Rezession kommt, ist daher positiv für die Entwicklung des privaten Konsums."

Und die wiederum ist wegen der anhaltenden geopolitischen Risiken wie der Ukraine-Krise die Voraussetzung dafür, dass die Wirtschaft auch im kommenden Jahr wächst. Denn wegen ungewisser Absatzchancen im Ausland halten sich die Unternehmen mit Investitionen derzeit stark zurück. Da von Exporten und Investitionen auch im kommenden Jahr kaum größere Impulse kommen dürften, bleibt der private Konsum als letzte Konjunkturstütze übrig. Bricht sie weg und damit auch die Steuereinnahmen, ist das große Prestigeprojekt "schwarze Null" gefährdet, nämlich 2015 erstmals seit mehr als vier Jahrzehnten einen Bundeshaushalt ohne neue Schulden zu schaffen.

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WIRTSCHAFT MACHT DRUCK

Auch der Wirtschaft kommt das Mini-Wachstum nicht ungelegen. Sie kann unter Hinweis auf die schlaffe Konjunktur weiter für ihre Anliegen trommeln. "Das schwache Wachstum im dritten Quartal zeigt, wie die deutsche Wirtschaft unter den internationalen Krisen leidet, aber auch unter einem Vertrauensverlust in die heimische Politik", sagt der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Martin Wansleben. "Daher ist es umso wichtiger, dass die Politik entschieden gegensteuert und mit den richtigen Signalen Vertrauen in der Wirtschaft wiederherstellt. Dann löst sich auch die Investitionsbremse."

Erste Erfolge kann die Wirtschaft schon verzeichnen. Finanzminister Wolfgang Schäuble will die Sanierung maroder Brücken und Straßen ab 2016 mit einem Investitionspaket von zehn Milliarden Euro vorantreiben. Die Wunschliste der Wirtschaft aber ist noch viel länger: Sie sieht auch bessere Abschreibungsmöglichkeiten für private Investitionen, eine Bekämpfung heimlicher Steuererhöhungen ("kalte Progression") sowie ein "Belastungsmoratorium" vor. Der Koalitionsvertrag beinhaltet aber weitere Regulierungen, etwa von Werkverträgen und Zeitarbeit. Arbeitgeber-Präsident Ingo Kramer befürchtet neue Rechtsansprüche auf Freistellungen von Arbeitnehmern sowie mehr Bürokratie durch Frauenquote, Eltern- und Pflegezeit. "Wer jetzt Wachstum Priorität geben will, sollte all diese Projekte wieder streichen", fordert Kramer.

Mit der schlappen Konjunktur steigen die Chancen der Wirtschaftslobby, ihre Wünsche durchzusetzen. Mindestlohn und Rente mit 63 dürften zwar nicht zurückgeschraubt werden, doch Merkel kündigte zumindest schon einmal an, die Lohnnebenkosten zu deckeln und konkrete Vorschläge zum Bürokratieabbau vorzulegen.

Reuters