Herr Dr. Krämer, nach dem Brexit-Votum der Briten vor gut zwei Wochen ging’s an den Börsen erst mal richtig runter. Dann gab’s eine kleine Erholung und jetzt haben Investoren erneut den Rückwärtsgang eingelegt. Kommt jetzt noch der Sell-off?


Wir sind ja nicht weit entfernt von den Tiefs unmittelbar nach dem Brexit-Votum. Deshalb erwarte ich nicht mehr den großen Ausverkauf - zumal die EU ein wirtschaftliches Eigeninteresse daran hat, mit ihrem zweitwichtigsten Handelspartner eine gütliche Einigung zu erzielen. Auf der anderen Seite gehen die Märkte nicht einfach zur Tagesordnung über. Jenseits des Brexit gibt es noch andere Probleme. So enttäuschen die Gewinne der meisten Unternehmen im Euroraum; die Analysten mussten ihre Gewinnschätzungen bis zuletzt nach unten korrigieren. Erst wenn sich die Unternehmensgewinne gegen Ende des Jahres stabilisieren, dürfte sich der DAX nachhaltiger erholen.

Wie erklären Sie sich diese Marktentwicklung? Wird Investoren erst jetzt das ganze Ausmaß der möglichen Auswirkungen klar?


Die Austritts-Entscheidung der Briten schafft natürlich eine gewaltige Unsicherheit. Es ist doch klar, dass die Kurse danach stark schwanken.

Haben wir das Tief jetzt schon gesehen?


Das ist schwer zu sagen. Aber der Brexit-Schock sollte langsam abklingen. Immerhin hat die EU Großbritannien einen Verbleib im Binnenmarkt angeboten - natürlich nur, wenn Großbritannien die Arbeitnehmerfreizügigkeit akzeptiert.

Auf Seite 2: Wo die Commerzbank den Dax zum Jahresende sieht





Wo erwarten Sie den Dax zum Jahresende?


Unser Jahresendziel liegt weiter bei 11.200 Punkten. Aber in diese Region kommen wir erst später im Jahr, wenn sich die Sorgen um den Brexit und die Unternehmensgewinne gelegt haben.

Aber die Vorzeichen trüben sich nicht nur wegen des Brexit ein. Das Münchner ifo-Institut hat seine Prognose für das Wirtschaftswachstum in Deutschland für 2016 und 2017 gerade leicht nach unten korrigiert. Sehen Sie ebenfalls Korrekturbedarf?


Ich erwarte für 2016 weiter ein ordentliches Wachstum von 1,5 Prozent. Schließlich hat der Brexit keinen globalen Unsicherheitsshock ausgelöst wie etwa die Lehman-Pleite im Herbst 2008. Außerdem schirmt der Konsum-Boom die deutsche Wirtschaft gegenwärtig ganz gut gegen negative Einflüsse von außen ab.

Neben dem Brexit und den Konjunktursorgen drückt auch die Lage bei den italienischen Banken auf die Stimmung. Berichten zufolge sitzen die Kreditinstitute auf rund 360 Milliarden Euro fauler Kredite. Händler warnen, dass Italien ein größeres Risiko für die Stabilität der Euro-Zone sein könnte als der Brexit. Teilen Sie diese Einschätzung?


In der Tat befindet sich das italienische Bankensystem in einer Krise. 16 Prozent aller Kredite sind faul. Wenn die Banken sie auf die Marktwerte abschrieben, würden ihnen 30 bis 60 Milliarden Euro an Kapital fehlen. Einige Banken hätten dann nicht mehr genügend Eigenkapital. Trotzdem zögert die italienische Regierung, die Sanierungs- und Abwicklungsregeln der EU anzuwenden. Denn dann würden auch die Geldgeber der Banken herangezogen, darunter viele Kleinsparer. Das ist eine schwierige Situation für Italien, aber nicht für den Euroraum als Ganzes.

Auf Seite 3: Wie die Vorzeichen für den Goldpreis und das britische Pfund sind





Statt Aktien sind Investoren zuletzt in sichere Häfen geflüchtet. Der Preis für die Feinunze Gold hat seit Mitte Dezember gut 300 Dollar zugelegt. Was trauen Sie dem Edelmetall auf Jahressicht zu?


Gold hat zuletzt von der Unsicherheit der Anleger kräftig profitiert. Aber es ist viel spekulatives Geld in den Goldmarkt geflossen. Wenn die Brexit-Ängste abebben, dürfte der Goldpreis wieder fallen.

Dafür fällt das britische Pfund von einem Tief zum nächsten. Wo könnte sich die britische Währung wieder fangen?


Gegenüber dem US-Dollar ist das Pfund so schwach wie zuletzt vor dreißig Jahren. Das Pfund sollte noch eine ganze Weile unter der Unsicherheit leiden, wie es in Sachen Brexit weitergeht. Eine nachhaltige Erholung sehe ich erst für das nächste Jahr.

In Großbritannien greift derzeit die Post-Brexit-Depression um sich. Es gibt Gewinnwarnungen, die Frühindikatoren drehen nach unten, Unternehmen drohen damit, ihren Sitz aufs europäische Festland zu verlegen. Was glauben Sie: Werden die Briten aus Angst vor einer tiefen Rezession am Ende doch noch die Notbremse ziehen und den Brexit abblasen?


Der Austritt aus der EU ist keine ausgemachte Sache, aber doch das wahrscheinlichere Szenario. Schließlich haben die Briten in einer demokratischen Abstimmung für den Austritt entschieden. Dieses Votum zu übergehen, wird den Politikern schwer fallen.