von Andreas Rapp, Leiter Private Banking Ellwanger & Geiger

Die guten alten Börsenweisheiten. Sie scheinen immer die passende Anlagestrategie parat zu haben: "Sell in May and go away" inklusive des passenden Zusatzes "But remember to come back in September", die "Jahresendrally" oder "Never catch a falling knife". Auffällig ist, dass sich einige der bekanntesten Börsentheorien um das Investieren nach dem Kalender drehen. Aktuell blicken viele Anleger sehnsüchtig in Richtung Jahresendrally. Kein Wunder, haben sie doch turbulente Wochen an den Kapitalmärkten hinter sich. Denn es liegt in der Psychologie der Anleger, dass sie gerade in Phasen großer Unsicherheiten nach einem gewissen Halt suchen, der sie in Ihrem Handeln bestätigt. Aber gibt es diesen saisonalen Jahresendeffekt an den Börsen wirklich und lässt sich durch einen Blick in den Kalender der richtige Zeitpunkt zum Kauf oder Verkauf der Aktien bestimmen? Eine Analyse der DAX-Entwicklung aus den vergangenen 27 Jahren ist aufschlussreich.

"Sell in May and go away" warnt Anleger vor Verlusten in den schwachen Sommermonaten. Ein Blick auf den DAX macht deutlich: Wer sich im vergangenen Mai zum Verkauf seiner Aktien entschied, konnte sich im August freuen. Während der DAX im Wonnemonat im Durchschnitt noch bei rund 11 600 Punkten lag, konnte der Leitindex Ende August nur noch rund 10 250 Punkte verzeichnen. Somit bestätigt die Theorie zumindest im gegenwärtigen Jahr die Regel. Schaut man sich die DAX-Werte seit seiner Auflage 1988 allerdings etwas genauer an, erkennt man, dass in den Monaten Juni und Juli entgegen der These mehr positive als negative Marktphasen folgten. Und diejenigen Anleger, die sich in den letzten 27 Jahren zum Verkauf ihrer Aktien im Mai entschieden, verpassten Gewinne häufiger und konnten sich nicht - wie eigentlich beabsichtigt - vor den Kursverlusten schützen.

Ein ebenso gegenteiliges Bild liefert die Analyse des zweiten Teils der Sell-in-May-Theorie "But remember to come back in September": In nicht einmal der Hälfte der Jahre des untersuchten Zeitraums erzielte der DAX eine positive Wertentwicklung in den Monaten September und Oktober. Und in insgesamt sechs Jahren überstiegen die Verluste sogar die Fünf-Prozent-Marke. Denn in den meisten Fällen liegen Kurseinbrüche eben nicht an den Jahreszeiten, sondern an der wirtschaftlichen Lage. Angesichts der Tatsache, dass Anleger diesen Weisheiten so viel Aufmerksamkeit entgegenbringen, sind diese Ergebnisse eher ernüchternd.

Betrachtet man allerdings die DAX-Entwicklungen der letzten 27 Jahre in Sachen Jahresendrally für die Monate Dezember und Januar, wendet sich das Blatt: Insgesamt gab es seit 1988 in 20 Jahren positive Wertentwicklungen bei nur sieben negativen Phasen. Aufs Jahr gerechnet kommt man damit auf eine Rendite von fast vier Prozent. Dafür gibt es im Kern zwei Ursachen: Zum einen beruhen die Kursanstiege auf dem sogenannten "Window Dressing". Bei dieser Maßnahme fügen die Fondsmanager zum Jahresende ihren Portfolios die Wertpapiere hinzu, die über das Jahr hinweg besonders gut gelaufen sind. Zum anderen liegen die Wertentwicklungen an den hohen Kapitalzuflüssen, die Versicherungen und Pensionskassen zum Jahreswechsel durch den Eingang ihrer Jahresbeiträge oder strategischer Neuinvestments institutioneller Anleger erhalten.

Ob es in diesem Jahr wieder eine Jahresendrally gibt, und wenn ja, ob sie wieder überdurchschnittliche Kursgewinne mit sich bringt, muss sich erst noch zeigen. Da wir bereits eine ausgeprägte Korrektur hinter uns haben, bieten sich durchaus Einstiegsmöglichkeiten für Anleger mit einem langfristigen Anlagehorizont. Obwohl die Jahresendrally im Vergleich zu den anderen kalendarischen Börsenweisheiten ihren Namen durchaus verdient hat, sollten Anleger sich natürlich nicht blind darauf verlassen. Auch die bekanntesten Theorien ersetzen keine Anlagestrategie und ebenso stellen saisonale Effekte keine pauschale Voraussage für Kursanstiege oder -rückgänge dar.

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Rapp verantwortet seit 2010 das Private Banking bei Ellwan- ger & Geiger Privatbankiers. Der Finanzexperte ist seit 2008 bei den Stuttgartern in der Vermögensverwaltung tätig. Er verfügt über mehr als 15 Jahre Erfahrung in der Privatkundenberatung. Die im Jahr 1912 gegründete Privatbank Ellwanger & Geiger ist auf Immobilien und Vermögensverwaltung für Privatkunden und institutionelle Investoren spezialisiert.