Eric Arthur Blair, besser bekannt George Orwell, erfand für sein Meisterwerk die Figur des Winston Smith, der im "Ministerium für Wahrheit" damit beschäftigt war, alte Zeitungs- und Nachrichtenmeldungen gemäß der Vorgaben des Großen Bruders zu revidieren. Überwacht durch einen fast sein gesamtes Zimmer überschauenden Teleschirm, hatte er, wie alle anderen auch, täglich dem ausgestrahlten "Zwei-Minuten-Hass" beizuwohnen, in dem über Terrorangriffe des Feindes und eigene Erfolge berichtet wurde. Der Erfolg der permanenten Meinungsmache blieb nicht aus.

So ganz an der heutigen Wirklichkeit vorbei geht das nicht. Und es zeigt Wirkung. Auch und gerade auf die Finanzmärkte. Denn obwohl die Meldung vom Freitag, ein russischer Militärkonvoi habe ein im ukrainischen Grenzzaun entdecktes Loch genutzt, um ins Nachbarland vorzurücken, an Dumpfbackigkeit kaum noch zu übertreffen war, reagierten die Aktienmärkte mit fast panikartigen Verkäufen. Das zeigt: Ob eine Nachricht erkennbar falsch ist oder nicht, spielt für ihre Wirksamkeit erst einmal keine Rolle. Erst recht nicht, wenn diese Nachricht zur eigenen Wahrnehmung oder gar zu einer Entwicklung passt, die für einen selbst positiv ist. Der Vorfall vom Freitag tat das zweifellos nicht. Und andere Nachrichten fallen vor allem dadurch auf, dass wir sie gar nicht erst präsentiert bekommen. Beispielsweise diese hier: Der größte private Gas- und Ölkonzern der Ukraine ist Burisma Holdings. Und dort finden sich im Verwaltungsrat folgende Namen: Alan Apter, früher tätig u. A. als US-Investmentbanker bei Merrill Lynch und JP Morgan, Devon Archer, ehemaliger Wahlkampfberater des heutigen US-Außenministers John Kerry und Hunter Biden, Sohn des US-Vizepräsidenten.

Börsianer, die hochnervös auf alle neuen Meldungen aus der Ukraine reagieren, sollten daher nicht aus den Augen verlieren, dass es hier vielleicht nicht nur, aber eben doch auch um handfeste Interessenkonflikte gehen dürfte, deren Verknüpfungen bis unmittelbar in die allerhöchste Ebene der US-Regierung hineinreichen. Demokratie, Öl und Gas hatten immer schon gewisse Berührungspunkte in der jüngeren US-Geschichte.

Auf Seite 2: US-Arbeitsmarkt: Schön geschminkt

US-Arbeitsmarkt: Schön geschminkt

Dass Nachrichten, die uns zu Pass kommen und die uns vielleicht sogar noch finanzielle Vorteile versprechen, eine weit höhere Chance haben, als glaubwürdig wahrgenommen zu werden als Daten, die ein eher düsteres Bild zeichnen, dafür nun ein sozusagen monatlich wiederkehrendes Beispiel: die US-Arbeitsmarktdaten.

Quelle: www.shadowstats.com

Die offizielle, mtl. vom Bureau of Labor Statistics ermittelte Arbeitslosenquote (U3) ist in diesem Chart durch die rote Kurve dargestellt, U6 enthält auch Arbeitslose, die "kurzfristig entmutigt" sind und sich deswegen nicht mehr in der offiziellen Statistik wiederfinden sowie Teilzeitbeschäftigte. Die blaue Kurve schließlich addiert zu diesen Betroffenen dann noch langfristig arbeitslose Menschen hinzu, die seit 1994 zur Verbesserung des Ergebnisses gar nicht mehr in offiziellen Berechnungen auftauchen.

Und dass diese blaue Kurve, die die US-Arbeitslosenquote bei rund 23 Prozent sieht, durchaus mit der Realität übereinstimmt, zeigt sich an einer ganz anderen Zahl. Waren es zur Jahrtausendwende noch rund 17 Millionen Amerikaner nur mit Hilfe staatlicher Lebensmittelmarken (Food Stamps) bewerkstelligen konnten, ist deren Zahl nun bis auf knapp 47 Millionen Menschen angestiegen, womit heute recht genau 20 Prozent aller US-Haushalte betroffen sind. Aber:

Selbst die Federal Reserve, die es (natürlich) besser weiß, richtet ihre Geldpolitik erklärtermaßen an der geschönten Arbeitsmarktstatistik aus, nicht an den wirklichen Zahlen. Und da dürfen wir einmal gespannt sein, wie sich eine evtl. Verschärfung der Leitzinsen ab dem kommenden Jahr auswirken wird. Der Arbeitsmarkt erinnert eher an die Zustände in Griechenland oder Spanien, während die Nachfrage nach Hypothekenkrediten auf den niedrigsten Stand seit 2000 gefallen ist. Meine Einschätzung daher: Die FED wird ihren Ankündigungen keine Taten folgen lassen, weil sie damit mehr riskiert als nur einen Kursrutsch an der Wall Street. Erst recht, falls die sich in den letzten Wochen abzeichnende Stagnation der Weltwirtschaft in Richtung einer neuen Rezession bewegen sollte.

Auf Seite 3: US-Börsenkredite: Ein klares Ja, aber

US-Börsenkredite: Ein klares Ja, aber

Wie Sie wissen, kann man Aktien auch auf Kredit kaufen. Und in den USA tut man das vornehmlich, indem man ein bestehendes Depot beleiht. Aber selbstverständlich nur dann, wenn man davon ausgeht, dass die Kurssteigerungen und Dividenden die zu zahlenden Kreditkosten zumindest kompensieren. Berechnet wird diese sgn. Margin Debt einmal monatlich durch die New York Stock Exchange, wobei allerdings nur große Anleger erfasst werden, die diese Art von Wertpapierkrediten melden müssen. Hier der aktuelle Chart:

Quelle: www.private-profits.de

Wie eng die Korrelation zwischen der Nachfrage nach Börsenkrediten und der Kursentwicklung insbesondere an den oberen und unteren Wendepunkten des Marktes ist, springt regelrecht ins Auge. Aber noch etwas fällt auf: Die Bereitschaft, auf Kredit zu spekulieren, ist heute eklatant ausgeprägter denn je. Von wegen, die großen Anleger hätten ihre Lektion gelernt! Sicher, in gewisser Weise schon. Gelernt haben sie, dass die Steuerzahler im Zweifelsfall die Zeche zu zahlen haben. Denn wer entgegen aller schönen Sonntagsreden letztlich zur Kasse gebeten wird, hat der jüngste "Fall" der portugiesischen Bank Espírito Santo (BES) bewiesen, die mit dem Heiligen Geist vermutlich eine ebenso innige Verbundenheit pflegt wir der Teufel mit dem Weihwasser. Den größte Anteil zur "Rettung" der Bank, die nach bewährt faulem Strickmuster in eine Good Bank" und eine "Bad Bank" gesplittet wurde, trägt unsere mittlerweile berühmt-berüchtigte "Troika". Auf die BILD-Schlagzeile "WIR SIND TROIKA" werden Sie vergeblich warten müssen, auch wenn es genauso ist.

Im Chart fällt aber noch etwas aus, das aber bitte nicht überbewertet werden sollte. Zwischen den beiden letzten oberen Extrempunkten der Nachfrage nach Börsenkrediten lagen recht genau sieben Jahre. Und im Oktober/November jährt sich die aktuelle Krediteuphorie erneut zum siebten Mal. Wie gesagt: Jede Art von "Börsenzyklik" erscheint mir obsolet. Verliefe Wahnsinn zyklisch, gäbe es bei Crashs keine Verlierer mehr. Und bei Exzessen mehr Gewinner.

Auf Seite 4: Drei wehende Wimpel

Drei wehende Wimpel

In der vorletzten Woche hatte ich Ihnen eine Erholung des DAX bis 9.300/9.350 angekündigt. Genau in diesem Zielbereich schlug dann am Freitag die Schwachsinnmeldung ein, dass die russische Armee im wohl derzeit bestüberwachten Territorium dieser Welt durch ein plötzlich entdecktes Loch im ukrainischen Grenzzaun in die Ukraine vorgedrungen sei. Die Folge: Der Index drehte exakt in meinem Zielfenster. Schon Montag und Dienstag reichten dem deutschen Aktienbarometer aber, um sich erneut in diesen Bereich hinein zu bewegen.

Quelle: www.private-profits.de

Wir sehen: Genau von der massiven Unterstützung bei 9.000/8.900 aus hat der DAX wieder nach oben eingedreht. Dabei hat er allerdings einen charttechnischen "Wimpel" gebildet, der potentiell bearish ist. Aber eben erst dann, wenn der Kurs aus ihm nach unten ausbrechen würde. Und das bedeutet, dass Bären jetzt auf einen Schlusskurs von unter 9.200 Punkten achten sollten. Ab da dürfen sie sich Hoffnung machen, in den wirklich grünen Bereich kommen sie aber erst ab einem Abwärtsbreak unter 8.900. "Wimpel" dieser Art haben übrigens auch MDAX und TecDAX ausgebildet. Drei potentiell sehr negative Formationen, wobei der Akzent auf "potentiell" zu setzen ist.

Setzt sich die Hausse also immer und immer weiter fort? Nein. Ich wage einmal die Behauptung, dass wir nach einem Schlusskurs unter 8.900 den Start einer neuen Baisse erleben werden. Und zieht man sich dazu neben dem oben bereits Erwähnten auch noch einige andere volkswirtschaftliche Daten herein, wird diese Baisse etwas üppiger ausfallen (müssen!) als ihre Vorgänger. 8.900 - behalten Sie es im Blick. Börse online als eben reine Börsenseite bat mich, den Umfang meiner politisch fokussierten Themen in meinen Kolumnen zu reduzieren. Kochrezepte gehören ja auch nicht in eine Strickzeitung.

Dem komme ich gerne nach. Wer sich vom politischen Geschehen weiterhin mehr zumuten möchte, der melde sich bitte einfach unter https://www.private-profits.de/newsletter.html zum Bezug meines jeweils samstags erscheinenden, kostenlosen Newsletters an, in dem es in dieser Woche u. a. darum gehen wird, warum Sie aus allen Staatsanleihen aussteigen sollten.

Viel Erfolg und beste Grüße

Axel Retz

Axel Retz ist seit über 25 Jahren als Chefredakteur von Börsenmagazinen und Börsendiensten tätig und betreibt das Portal www.private-profits.de.

Axel Retz ist seit über 25 Jahren als Chefredakteur von Börsenmagazinen und Börsendiensten tätig und betreibt das Portal www.private-profits.de.