von Carsten Roemheld, Kapitalmarktstratege bei Fidelity Worldwide

Allein die Nachbarn Indien und China sind verschieden wie Tag und Nacht. Indien ist eine Demokratie, China ein nüchterner Einparteienstaat. Chinas Leistungsbilanz weist einen Überschuss von rund zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf, ähnlich hoch ist Indiens Defizit. Chinas Inflation liegt unter drei Prozent, in Indien bei über neun. Auf dieser Basis könnte man zu dem Schluss gelangen, dass China die bessere Anlage ist. Trotzdem hinkten China-Aktien 2013 ihren indischen Pendants deutlich hinterher. Daran lässt sich eine der wichtigsten Grundregeln des Marktes verdeutlichen: Die zweite Ableitung bestimmt das Ergebnis.

Was ist damit gemeint? Nicht die absolute Höhe der Faktoren ist entscheidend, sondern einzig und allein, ob sie sich in die positive oder negative Richtung entwickeln. Mit 7,5 Prozent kann sich Chinas BIP-Wachstum sehen lassen. Aber in den vergangenen Jahren hat sich das Tempo im Reich der Mitte kontinuierlich verlangsamt. Diese zweite Ableitung, also die Veränderungsrate oder "Wachstumsrate der Wachstumsrate", ist einer der zentralen Gründe für das enttäuschende Abschneiden chinesischer Aktien. Indien hingegen leidet unter einem ausgeprägten Leistungsbilanzdefizit - das sich jedoch seit einiger Zeit stetig bessert und sich von rund fünf Prozent auf nun etwa 2,5 Prozent des BIP halbiert hat. Nicht zuletzt dieser marginal positiven Entwicklung ist das kräftige Kursplus am indischen Aktienmarkt zu verdanken.

Auch auf Länderebene birgt die Pauschalisierung Tücken. Das Paradebeispiel liefert wieder China. Insgesamt hat der Aktienmarkt dort schwach abgeschnitten. Wenn Sie diese Entwicklung richtig vorhergesagt und in den vergangenen zwölf Monaten einen Bogen um China gemacht haben, mögen Sie sich nun auf die Schulter klopfen. Aber ist das wirklich ein Grund, stolz zu sein? Schließlich sind die Kurse chinesischer Gesundheitsaktien im gleichen Zeitraum um 115 Prozent nach oben geschnellt, Aktien von Softwarefirmen haben um 111 Prozent zugelegt.

Hinter den Zahlen für einzelne Länder verbergen sich große Unterschiede in der Wertentwicklung einzelner Branchen. So ging das magere Ergebnis des chinesischen Aktienmarkts als Ganzes vor allem auf das Konto großer Branchen wie Banken, Energie, Werkstoffe und Telekommunikation, die im genannten Zeitraum zwischen 16 und 21 Prozent eingebüßt haben. Ihnen drückt man den Stempel "Old Economy" oder "staatseigene Unternehmen" auf. Wegen ihrer schieren Größe und damit starken Gewichtung im Index haben sie die beeindruckende Performance der kleineren, zur "New Economy" gerechneten Wirtschaftszweige überschattet, die sich so prächtig entwickelt haben.

Aber auch dieser Trend wird nicht von Dauer sein. Anleger stehen vor einem Dilemma: Sollen sie weiter in den Wirtschaftszweigen investiert bleiben, die in jüngster Zeit so gut abgeschnitten haben, oder in einige der im vergangenen Jahr ungeliebten Branchen umschichten? Sollte der Ausblick für einige der "Old Economy"-Branchen weniger düster erscheinen, könnte das nun, da sie bereits extrem günstig zu haben sind, reichen, um sie 2014 zu einer guten Anlage zu machen. Wie die Zementbranche. Wegen staatlicher Maßnahmen zum Abbau von Überkapazitäten ist es zu einer Marktbereinigung gekommen, von der die überlebenden Unternehmen nun profitieren könnten. Auch umgekehrt wird ein Schuh draus: Denn sollten einige der sehr teuren "New Economy"- Branchen in nicht mehr ganz so hellem Glanz erstrahlen, könnte das der Auslöser für Gewinnmitnahmen sein. Etwa wenn Peking die Internetfinanzdienstleister, die in jüngster Zeit rasant gewachsen sind, stärker regulieren sollte.

Der beste Rat für das laufende Jahr: Hüten Sie sich vor Verallgemeinerungen, differenzieren Sie zwischen Märkten und Branchen, und vor allem vergessen Sie nicht: Es ist die zweite Ableitung, die die Märkte bewegt.

Carsten Roemheld

Kapitalmarktstratege bei Fidelity Worldwide Investment in Kronberg im Taunus. Zuvor war der 43-Jährige Direktor für Globale Aktien bei Credit Suisse. Fidelity ist eine internationale, inhabergeführte Fondsgesellschaft und bietet privaten und institutionellen Anlegern aktiv gemanagte Publikumsund Spezialfonds an. In Deutschland verwaltet Fidelity aktuell rund 14 Milliarden, weltweit rund 200 Milliarden Euro.