Das wohl bekannteste Zitat von Jean-Claude Juncker stammt aus dem Jahre 1999 und lautet: "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt."

Mehr als 17 Jahre hat Jean-Claude Juncker nun genau nach diesem Motto gehandelt. Und jetzt wundert er sich, mittlerweile Präsident der Europäischen Kommission, dass die Leute immer misstrauischer werden. Gegenüber der Europäischen Union, gegenüber der Europäischen Kommission, gegenüber ihm, dem Europäer.

Sie wollen nicht mehr zusehen, wie mit ihrem Steuergeld andere Länder gerettet werden, wie wichtige Regeln immer wieder gebrochen werden, wie die EU in den vergangenen acht Jahren von Krise zu Krise taumelte. Sie sind besorgt, weil die Schulden steigen, die Sparer betrogen werden und die EZB Unmengen ungedeckten Geldes druckt.

Die Wähler verteilen Denkzettel



Die Leute haben einfach die Nase voll. Und da sie Juncker, Schulz oder Draghi faktisch nicht abwählen können, lassen sie ihrem Unmut freien Lauf da, wo sie es können: Das gescheiterte Referendum in Holland zum Assoziierungsvertrag mit der Ukraine und der Brexit sind zwei bezeichnende Beispiele - und mit Sicherheit nicht die letzten. Das Referendum in Italien, die Präsidentenwahl in Österreich liegen gerade hinter uns. Auch bei den Wahlen des nächsten Jahres in den Niederlanden, Deutschland und Frankreich werden jede Menge Denkzettel verteilt werden. Seit Trumps Sieg haben die Menschen keine Angst mehr davor, nicht den Mainstream zu wählen.

Die Reaktion von Juncker, Schulz (oder auch Verhofstadt, Weber, Pittella) ist immer die gleiche: Wir brauchen mehr Europa, mehr Integration, mehr Kompetenzen. Dabei hat es Brüssel erstens nicht geschafft, mit den bisherigen Kompetenzen richtig umzugehen, und zweitens massenhaft eigene Regeln gebrochen.

162 (in Worten: einhundert-zweiundsechzig) Mal zum Beispiel wurde beim Stabilitäts- und Wachstumspakt die Drei-Prozent-Defizitregel nicht eingehalten. Man darf raten, wie oft eine Sanktion verhängt wurde. Richtig, kein einziges Mal. Schengener Vertrag, Dubliner Abkommen,

Art. 123 und Art. 125 der EU-Verfassung, das Prinzip der Subsidiarität, Sixpack, Twopack ... das sind weitere wichtige nicht eingehaltene Regeln und Prinzipien.

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Großbritannien soll bestraft werden



Im kommenden Jahr, wahrscheinlich im März, wird Großbritannien den Artikel 50 des EU-Vertrags aktivieren. Das heißt, es wird das offizielle Austrittsgesuch einreichen. Die Totengräber werden dann versuchen, an den Briten ein Exempel zu statuieren, damit alle anderen Länder abgeschreckt werden - wie in einer Mafia-Familie, wenn ein Mitglied sie verlassen will. Also werden sie versuchen, die britischen Bürger zu bestrafen, weil sie es sich geleistet haben, für die Freiheit zu stimmen. Diese Sicht ist natürlich extrem kurzsichtig.

Es wird nicht beim Bestrafungsritual bleiben.



Die Totengräber werden nach dem Austritt Großbritanniens versuchen, noch mehr Kompetenzen nach Brüssel zu verlagern, womit sich die EU den eigenen Bürgern allerdings nur noch mehr entfremdet. Gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein weiteres Mitgliedsland aussteigt. Wenn nicht aus der EU, dann aus dem Euro. Italien und Finnland wären die heißesten Kandidaten, weil hier am deutlichsten zu sehen ist, wie die starke Währung die heimische Industrie vernichtet.

Für Griechenland gilt das natürlich auch. Doch die Gemeinschaft der Eurostaaten ist immer noch dumm genug, dorthin immer wieder frisches Geld zu schicken. Hier wird nächstes Jahr also nicht viel passieren.

Aber in Portugal kann es heiß hergehen, wenn nach den drei großen Ratingagenturen auch die kleine Agentur DBRS aus Kanada den portugiesischen Staatsanleihen den Ramschstatus verleihen wird. Dann darf die EZB diese Schuldscheine nicht mehr aufkaufen. Nur ein neues Rettungsprogramm brächte die Rettung.

Bleiben die Migranten, das momentan größte Problem der EU. Leider pflegen Politiker immer erst alle anderen Möglichkeiten auszuprobieren, bevor sie zu den vernünftigen kommen. Das könnte indes jetzt der Fall sein - der deutsche Innenminister hat kürzlich vorgeschlagen, die Asylanträge außerhalb der EU zu bearbeiten. Sollte es dazu kommen, könnte die Anzahl der Migranten nachhaltig sinken, zumindest jener aus Nordafrika.

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Dauerhafter Vertrauensverlust



Es gibt auch Gutes. Der Krieg in Syrien könnte bald beendet sein. Da Trump keine Berührungsängste mit Putin hat, könnte es zu einer Einigung zwischen den USA und Russland kommen und so das derzeit größte außenpolitische Problem der EU gelöst werden. Das wird jedoch die Bürger nicht überzeugen, den Totengräbern wieder zu vertrauen. Insgesamt sieht die Zukunft der EU nicht gut aus.

Aus: Tichys Einblick - Heft Nr. 1