Über Klimaschutz, Migration, Wirtschaftspolitik und Steuerpläne wurde im Bundestagswahlkampf kräftig gestritten. Ein Thema erhielt aber viel zu wenig Aufmerksamkeit: die Frage, wie man die Altersvorsorge der Deutschen neu aufstellen und rentabler machen kann. Ein großer Fehler, findet Franz-Josef Leven vom Deutschen Aktieninstitut, dem wichtigsten deutschen Interessenverband für Aktiengesellschaften. Zumal sich in den Programmen der Parteien durchaus Reformideen finden.

Euro am Sonntag: Herr Leven, Finanzmärkte und Börsen spielten im Wahlkampf kaum eine Rolle. Hat die Politik vor der Wahl ein wichtiges Zukunftsthema ausgeklammert?

Franz-Josef Leven: Positiv betrachtet könnte man sagen, dass Börsen und Aktien für Politik und Öffentlichkeit offenbar kein so großes Reizthema mehr sind wie zum Beispiel vor der Bundestagswahl im Jahr 2013 …

… als die Welt noch unmittelbar unter dem Eindruck der Finanzkrise und der darauf folgenden Schuldenkrise stand.

Zu der Zeit ging es in der öffentlichen Diskussion viel um Dinge wie Bankpleiten, Leerverkäufe oder Rettungsschirme. Heute dominierten den Wahlkampf ganz andere Themen wie zum Beispiel die Corona-Pandemie oder der Klimawandel. Börsen und Aktien rückten da in die zweite Reihe. Erfreulicherweise finden sich aber dennoch in den Wahlprogrammen einiger Parteien hilfreiche Vorschläge, beispielsweise zum Einsatz von Aktien in der Altersvorsorge.

Die FDP hat eine Aktienrente im Programm. Auch Grüne, SPD und mit Abstrichen die Union sprechen sich für eine zusätzliche kapitalgedeckte Vorsorge neben der gesetzlichen Rente aus. Im Wahlkampf ging das Thema aber unter. Weshalb sollte man jetzt trotzdem über solche Vorschläge sprechen?

Weil wir neben der gesetzlichen Rente dringend eine weitere Stütze in der Altersvorsorge brauchen. Unser Rentensystem gerät wegen der gesellschaftlichen Alterung zunehmend in Schieflage. Schon heute schießt der Fiskus pro Jahr über 100 Milliarden Euro aus den Staatseinnahmen ins Rentensystem zu, weil dort immer weniger Beitragszahler auf immer mehr Rentner treffen. Diese Subventionierung lässt sich aber nicht endlos steigern, und auch die Rentenbeiträge kann man nicht unbegrenzt erhöhen. Das Problem könnte unter anderem eine effektivere Vorsorge mit Aktien lösen. Sie bringen langfristig mehr Rendite als das staatliche Umlagesystem oder festverzinsliche Wertpapiere.

Die Grünen schlagen sogar einen staatlichen gemanagten Bürgerfonds für Aktien vor, der nur sehr geringe Gebühren hätte. Was halten Sie davon?

Aus unserer Sicht ist das nicht der richtige Weg, da wir auf Wettbewerb setzen und bei einem staatlichen Fonds Interessenkonflikte drohen.

Inwiefern?

Selbst wenn ein staatlicher Fonds sein Kapital weltweit in Aktien streut, wird er immer auch große Summen in heimische Unternehmen investieren. Ich befürchte, dass es in Wirtschaftskrisen politische Bestrebungen gäbe, mit dem Fonds marode Unternehmen und damit Arbeitsplätze zu retten. So würde man aber nur gutem Geld schlechtes hinterherwerfen - zulasten der Bürger und ihrer Altersvorsorge.

Was wäre Ihre Alternative?

Wie beispielsweise in Australien sollten die Bürger die Wahl zwischen verschiedenen Anbietern aus der Finanzindustrie haben. Der Staat legt den Rahmen für diesen Wettbewerb fest, etwa was eine notwendige Risikostreuung und die Struktur der Kosten dieser Produkte angeht. Aus diesen könnten die Bürger dann ein für sie passendes Produkt wählen, in das sie zusätzlich zur gesetzlichen Rente Beiträge einzahlen.

Schon jetzt kaufen aber viele Deutsche keine Fonds. Sie sind entweder mit der Auswahl überfordert oder haben keine Lust, sich damit zu beschäftigen.

Umso wichtiger ist es, für diese Personen verständliche und kostengünstige Standardprodukte anzubieten. Außerdem brauchen die Bürger einen sanften Schubs, wir plädieren für ein Opt-out. Das bedeutet, dass jeder Arbeitnehmer automatisch in eine aktienorientierte Altersvorsorge eingebunden wird, es sei denn, dass er aktiv widerspricht.

Das ist zum Beispiel in Schweden so. Welche Erfahrungen hat man dort mit Aktien in der Altersvorsorge gemacht?

Beste! Neben Schweden haben wir uns in einer Studie auch viele andere Länder mit einem aktienbasierten Ansparverfahren zusätzlich zur umlagefinanzierten Rente angeschaut, zum Beispiel Australien, Großbritannien oder die USA. Im Schnitt brachten die Systeme dort langfristig trotz zwischenzeitlicher Börsentiefs hohe einstellige Renditen pro Jahr und damit weit mehr als die Umlagesysteme. Nirgends gab es große Skandale. Wir haben auch keinen einzigen Fall gefunden, in dem etwas richtig schiefgegangen ist. Die Befürchtung, man stehe bei der Altersvorsorge mit Aktien wegen Skandalen und Crashs am Ende mit leeren Händen da, ist also Unsinn. Und es gibt in diesen Ländern noch einen anderen positiven Effekt.

Welchen denn?

Wenn ein Land eine starke Aktienkultur hat und dort viel Geld an Kapitalmärkten investiert wird, hilft das auch der Wirtschaft. Je mehr Geld im Rahmen der Altersvorsorge in Aktien angelegt ist, desto mehr Kapital ist für Investitionen in Wachstumsunternehmen da. In Deutschland fehlt dieses Kapital leider. Deshalb gehen viele aussichtsreiche deutsche Unternehmen lieber im Ausland an die Börse. Das war jüngst zum Beispiel bei den Impfstoffherstellern Biontech und Curevac der Fall, die sich beide an der Technologiebörse Nasdaq in New York notieren ließen.

Warum ist das so?

Das hat zwei Gründe: Erstens ist bei uns das Ökosystem Kapitalmarkt schlechter ausgebildet. Es fehlt in jeder Hinsicht die kritische Masse, etwa beim Kapital, den Analysten, den Banken, den Finanzprodukten oder den Anlegern. Gerade spezialisierte Unternehmen werden in größeren Märkten wie den USA viel besser angenommen als hier.

Und zweitens?

Ist das Aktienrecht bei uns viel zu kompliziert. Nur ein Beispiel: Wer in Deutschland eine Kapitalerhöhung durchführen will, muss mindestens ein halbes Jahr dafür einplanen und kann den Preis der neuen Anteile und die Menge des frischen Kapitals auch nicht frei ansetzen. Das kann in Krisen für Unternehmen zum echten Problem werden. Diesen Wettbewerbsnachteil muss die Politik beseitigen.

Was soll es denn der deutschen Wirtschaft konkret bringen, wenn Deutschland ein guter Börsenstandort ist?

Unter anderem gute Finanzierungsbedingungen. Außerdem muss man die Sache auch andersherum betrachten: Wenn ein deutsches Unternehmen wie Biontech in den USA oder anderswo im Ausland an die Börse geht, besteht die große Gefahr, dass es auch immer mehr Geschäftsteile dorthin verlagert. Im Lauf der Zeit wird dann aus einem deutschen Unternehmen zum Beispiel ein amerikanisches, das seine Produkte in den USA entwickelt, dort neue Arbeitskräfte anstellt und auch dort seine Steuern bezahlt. Die Abwanderung junger und dynamischer Unternehmen ist ein echtes Problem für Deutschland.

Was würde neben der kapitalgedeckten Vorsorge außerdem helfen, die Aktienkultur hier zu stärken und somit den Börsenstandort attraktiver zu machen?

Dass die Politik endlich die steuerlichen Rahmenbedingungen für die Geldanlage mit Aktien verbessert. Genau das tut sie im Moment aber nicht, wie die Pläne zur Finanztransaktionsteuer zeigen. Die braucht wirklich kein Mensch! Trotzdem halten einige Parteien fanatisch an den Plänen dazu fest, als könnte man mit der Steuer die Welt retten.

Seit der Finanzkrise denkt man über so eine Steuer nach, um Spekulationen einzudämmen. Union, SPD, Grüne und Linke haben sie im Programm. Was ist aus Ihrer Sicht daran falsch?

Im Moment will man aus technischen Gründen nur Aktien besteuern und nicht etwa Derivate oder Zertifikate. Mit einer Aktiensteuer würde man aber nicht die Hedgefonds und vermeintliche Spekulanten treffen, sondern langfristig anlegende Aktionäre und Sparer - und damit genau die Falschen. Aber selbst eine Besteuerung von Derivaten würde die Unternehmen der Realwirtschaft bitter treffen, die diese Instrumente etwa zur Absicherung von Währungsschwankungen einsetzen.

Dafür würde die Transaktionsteuer dem Fiskus mehr Einnahmen bringen.

Aber längst nicht so viel, wie manche denken. In Frankreich gibt es so eine Aktiensteuer schon. 2017 meldete das Finanzministerium dort, dass sie viel weniger einbringt als erhofft, nämlich nur eine Milliarde Euro im Jahr. Nicht einmal die kurzfristigen Transaktionen am Aktienmarkt hat die Steuer verringert. Es ist unstrittig, dass echte Kapitalerträge besteuert werden müssen und nicht der Handel mit Wertpapieren. Das geschieht ja auch bereits. Im Moment werden Aktienerträge gegenüber anderen Formen der Geldanlage sogar regelrecht diskriminiert.

Wie bitte? Das müssen Sie erklären.

Bei Zinsen und festverzinslichen Wertpapieren werden höchstens 25 Prozent Abgeltungsteuer fällig, gegebenenfalls plus Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag. Unternehmensgewinne, die reinvestiert den Unternehmenswert und damit den Kurs der Aktie steigern, sowie Dividenden, die an die Aktionäre ausgeschüttet werden, besteuert der Fiskus dagegen zweimal: einmal beim Unternehmen mit Gewerbe- und Körperschaftsteuer und ein zweites Mal beim Aktionär mit der Abgeltungsteuer.

Gewinne bei Bitcoin oder Gold sind dagegen nach einem Jahr Spekulationsfrist sogar komplett steuerfrei.

Stimmt, dabei haben Bitcoin und Gold keinerlei volkswirtschaftlichen Produktivitätseffekt. Aktiengesellschaften entwickeln und verkaufen hingegen wichtige Produkte und schaffen damit Arbeitsplätze. Auf Gewinne bei Aktien fällt trotzdem immer Abgeltungsteuer an, auch wenn man sich über viele Jahre an einem Unternehmen beteiligt. Ich sehe überhaupt keinen Grund, weshalb man an dieser Privilegierung unproduktiver Anlageklassen gegenüber der Aktie festhalten sollte - ganz im Gegenteil.

Was fordern Sie?

Dass die Politik die Doppelbesteuerung beendet und Aktiengewinne nach einer Haltedauer steuerfrei macht, statt Sparer mit einer weiteren Steuer von der Aktienanlage abzuschrecken. Die Politik müsste eigentlich großes Interesse daran haben, dass vor allem die Mittelschicht ihre Rentenlücke selbst schließt. Denn wenn der Staat weiter Jahr für Jahr 100 Milliarden und künftig wohl noch viel mehr zuschießen muss, um das Loch im Umlagesystem zu stopfen, kommt er irgendwann an seine Leistungsgrenze. Das Geld könnte er viel besser verwenden, um Menschen zu helfen, die wirklich nicht für sich sorgen und vorsorgen können.

Die nächste Bundesregierung wird eine Koalition aus zwei oder drei Parteien sein, die wohl unterschiedliche Ziele haben. Wie viel Kompromissfähigkeit ist da bei Kapitalmarktthemen gefragt?

Das kommt natürlich auf die Konstellation an. Vor allem bei lagerübergreifenden Koalitionen aus drei Parteien wie Jamaika oder einer Ampel wird man sich zusammenraufen und auch ideologische Gräben überbrücken müssen. Mal sehen, wie das klappt.

Welches Börsenprojekt hat in der kommenden Legislaturperiode die größte Chance, verwirklicht zu werden?

Die Politik könnte problemlos das enge Korsett für Hauptversammlungen lockern und auch über die Pandemie hinaus virtuelle Versammlungen ermöglichen. An ihnen können viel mehr Aktionäre teilnehmen als an einer Präsenzhauptversammlung, und es spart auch klimaschädliche Reisen. Das virtuelle Format bietet viele Vorteile. Und ideologische Vorbehalte dürfte es dagegen von keiner Partei geben.
 


Vita:
Franz-Josef Leven

Dr. Franz-Josef Leven ist stellvertretender Geschäftsführer des Deutschen Aktieninstituts. Er trat 1989 nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln in den damaligen Arbeitskreis Aktie e.V. ein und war zunächst für die Bereiche Volkswirtschaft, Statistik, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Seit 2012 ist er Lehrbeauftragter für Corporate Governance von Finanzunternehmen an der Universität Liechtenstein, seit 2020 außerdem Lehrbeauftragter für Volkswirtschaftslehre, Kapitalmärkte und Wirtschaftsgeschichte an der U3L der Goethe-Universität Frankfurt.
 


Institut:
Deutsches Aktieninstitut

Das Deutsche Aktieninstitut setzt sich als Lobbyverband für einen starken Kapitalmarkt ein. Seine Mitgliedsunternehmen repräsentieren über 85 Prozent der Marktkapitalisierung deutscher börsennotierter Aktiengesellschaften, darunter zum Beispiel SAP, Linde oder VW. Das Aktieninstitut vertritt diese im Dialog mit der Politik und bringt ihre Positionen über sein Hauptstadtbüro in Berlin und das EU-Verbindungsbüro in Brüssel in die Gesetzgebungsprozesse ein.