"Ohne Winfried Kretschmann und dessen Politikstil und ohne seine für einen Grünen relativ stark ausgeprägte konservative Haltung würden die Grünen in Baden-Württemberg nicht die Regierung führen", sagte die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch zu Reuters. Aber die Bundespartei kann sich trotz neuer Konkurrenz durch eine Klimaliste Rückenwind erhoffen - und womöglich ein Ampel-Signal, das ihre Machtoptionen im Bund erweitern würde.

In Baden-Württemberg könnte den Grünen gelingen, was sie im Bund zum Ziel erklärt haben. "Die Botschaft von einem Wahlsieg in Baden-Württemberg wäre: Wir können die Union schlagen", sagte Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner zu Reuters mit Blick auf die Bundestagswahl. In Umfragen der vorigen Woche lagen die Grünen mit 33 bis 35 Prozent vor der CDU, die mit 24 bis 25 Prozent historisch schlecht taxiert wurde.

WAHLERFOLG OHNE EINFLUSS AUF KANDIDATENKÜR IM BUND?


Es wäre das dritte Mal, dass die vor gut 40 Jahren gegründete und mit der Umwelt- und Friedensbewegung groß gewordene Partei stärkste Kraft im Ländle würde. Kellner räumt ein, dass vor allem eine Person dafür maßgeblich ist: "Baden-Württemberg hat mit Winfried Kretschmann ein unglaubliches Zugpferd." Münch verweist darauf, dass die Atomreaktor-Katastrophe von Fukushima und auch der Protest gegen den Ausbau des Stuttgarter Bahnhofs die Grünen an die Regierung gebracht hätten. "Dann hat Kretschmann sein konservatives Element und diese Wirtschaftsorientierung, auch die Gesprächsfähigkeit gegenüber den Landwirten, ganz stark gepflegt", sagt die Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing.

Auf den zwischen Ostern und Pfingsten anstehenden Beschluss, wer von den Grünen-Vorsitzenden - Annalena Baerbock oder Robert Habeck - den Wahlkampf um das Kanzleramt anführt, soll das keine Auswirkungen haben. "Das hat keinen Einfluss auf die Personalentscheidung", sagt Bundesgeschäftsführer Kellner. Die Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner, die sich um den Spitzenplatz der Landesliste in Baden-Württemberg für die Bundestagswahl bewirbt, ergänzt: "Aber Baden-Württemberg zeigt, dass es sich lohnt, um Platz eins zu kämpfen."

In ihrem pragmatischen Politikansatz ähneln Baerbock und Habeck dem Ministerpräsidenten in Stuttgart. Auch sie suchen das Gespräch mit anderen Gruppen über die Stammwählerschaft hinaus, stehen für eine breite Themenpalette. "Natürlich kann man aus Baden-Württemberg lernen, dass die Grünen mit einem eher gemäßigten Kurs im Großen und Ganzen besser fahren", resümiert Münch gegenüber Reuters. "Aber machen Sie das als Parteiführung mal Ihrer Basis klar." Verluste bei fundamentalen Klimaschützern oder Friedensbewegten würden durch Wechselwähler aufgewogen. "Aber dieser Lerneffekt nutzt den Bundesgrünen nicht viel, weil sie die Partei bedienen müssen und die Bundestagsfraktion, wo grüne Positionen nicht aufgegeben werden sollen."

KONKURRENZ DURCH KLIMALISTE EINGEDÄMMT?


Das Risiko von Einbußen in der Kernwählerschaft etwa durch Kompromisse beim Klimaschutz wird bereits in Baden-Württemberg deutlich. Eine erst im September 2020 gegründete "Klimaliste" fordert die Grünen heraus. Kretschmann warnte frühzeitig, dies könne "gravierende Folgen haben - zum Beispiel, dass es nicht für eine Regierung reicht, weil es sich zersplittert". Tatsächlich fand er damit Gehör, sogar bei Teilen der Klimaliste: Mehrere Vorstandsmitglieder traten in den vergangenen Wochen zurück, begründet mit der Sorge, dem Klimaschutz durch eine Schwächung der Grünen mehr zu schaden als zu nutzen. Mittlerweile hat sich der Vorstand neu formiert, die Liste tritt in fast allen Wahlkreisen an. In Umfragen taucht sie aber nicht oberhalb der Fünf-Prozent-Marke auf.

Zentrale Forderung der Klimaaktivisten ist die Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad Celsius, wie es im Pariser Klimaschutzabkommen vereinbart wurde. Dem soll alles andere untergeordnet werden. "Wir haben sehr viele Gespräche geführt mit der Bewegung, mit den Akteuren, und haben ein sehr ambitioniertes Programm vorgelegt", erklärt Brantner die erhoffte Abschwächung der Wählerkonkurrenz durch die Klimaliste.

Auch Brantners Fraktionskollegin Agnieszka Brugger wertet es als "ein deutliches Zeichen, dass relevante Teile der Klimaliste für sich entschieden haben, den Grünen bei dieser wichtigen Wahl keine Konkurrenz machen zu wollen". Brugger, die sich ebenfalls um den Spitzenplatz der Landesliste bewirbt, erhofft Rückenwind für die Bundestagswahl: "Bei einem starken Ergebnis der Grünen wird auch deutlich, dass die Menschen trotz Dominanz der Corona-Pandemie klar sagen: Die Klimakrise haben wir nicht vergessen."

SPRINGT DIE AMPEL ZUR BUNDESTAGSWAHL AUF GRÜN?


Zur Bundestagswahl wollen die Grünen allen Anschein vermeiden, sie steuerten auf ein schwarz-grünes Bündnis mit der Union zu, die in Umfragen noch immer weit vor ihnen liegt. Ein Regierungswechsel in Stuttgart könnte dabei helfen. "Es ist offen, ob es mit der SPD als Alternative zur CDU alleine reichen könnte", sagte Brantner. "Rechnerisch realistischer wäre dann eher eine Ampel." Dies zielt auf ein Bündnis mit SPD und FDP, wie es in Rheinland-Pfalz mit einer SPD-Ministerpräsidentin regiert, das aber eine Premiere unter Grünen-Führung wäre.

Dies hätte Charme aus strategischer Sicht für die Bundes-Grünen. Für sie ist neben dem Motivationsschub durch einen Wahlsieg auch wichtig, was nach dem Wahlabend passiert. Im Fall einer Koalitionsbildung mit SPD und FDP könnten sie auf weitere Machtoptionen verweisen. "Es wäre für die Grünen schon relevant, um zu zeigen, dass sie als Alternativoption zu Schwarz-Grün nicht nur auf Grün-Rot-Rot gehen", sagt Münch. "Denn ein Bündnis mit der Linken schreckt viele Wähler des gemäßigten Lagers ab."

rtr