Leonhard Tietz wurde 1849 als Sohn jüdischer Eltern in der Kleinstadt Birnbaum an der Warthe, im Osten der preußischen Provinz Posen, geboren. Der Ort heißt heute Miedzychód und liegt in Polen. Seine Eltern lebten in einfachsten Verhältnissen. Sie betrieben ein Fuhrgewerbe und einen kleinen Gemischtwarenladen. Hier wurde, wie seit Jahrhunderten im Handel üblich, um Preise gefeilscht. Und weil meist angeschrieben, also auf Pump gekauft wurde, mussten die Händler ihre Kreditkosten über höhere Preise hereinholen. "In einigen Städten kauften Studenten und Offiziere damals lieber in einfacher Zivilkleidung ein, um so günstigere Preise zu erzielen, als sie bei erkennbar höherer sozialer Stellung zu entrichten gewesen wären", schrieb Tietz-Biograf Nils Busch-Petersen.

Leonhard Tietz war ein schmächtiger Junge. Er galt als wissensdurstig, charmant und stets freundlich. Bereits mit neun Jahren begann er seine Berufsausbildung in den Textilwarenläden seiner Verwandten in Birnbaum und Prenzlau, besuchte für sie später als Handelsreisender Messen und begeisterte sich für die französische Kaufhauskultur, die der Schriftsteller Émile Zola in seinem Roman "Das Paradies der Damen" beschreibt. "Kathedralen des modernen Kommerzes" nennt Zola diese schillernden Kaufhäuser wie das 1852 in Paris eröffnete Au Bon Marché, die Frauen zum Konsum verführten und zeigten, wie Kommerz und Marketing schon im 19. Jahrhundert funktionierten.

1879 verließ Tietz die provinzielle Enge von Birnbaum und zog nach der Heirat seiner langjährigen Freundin Flora nach Stralsund, wo er auf 25 Quadratmetern eine Textilwarenhandlung gründete - ein "Garn-, Knopf-, Posamentier- und Wollwarengeschäft". Nach der Schleifung der Befestigungsanlagen, die die Stadt seit der Mitte des 13. Jahrhunderts umgaben und sie vor Angriffen schützen sollten, hatte in der Hansestadt ein Bauboom eingesetzt.

Tietz’ Geschäftsstrategie ging auf und stieß bei der Bevölkerung auf breite Akzeptanz. Er lockte die Kundschaft mit Billigstpreisen, außerdem kurbelte er die Umsätze mit Sonderangeboten und Werbeaktionen in der Lokalpresse an. Und er bestand auf Barzahlung. Was die Waren kosteten, war deutlich gekennzeichnet. Wenn ein Produkt dem Kunden nicht gefiel, konnte er es zurückgeben. Er brach damit mit jahrhundertealten Handelsbräuchen, nämlich der Praxis des Feilschens und Anschreibens.

Zu seiner Kundschaft gehörten nicht nur wohlhabende Bürger, sondern auch Arbeiter und Bauern aus dem Umland von Stralsund. Bereits nach einem Jahr zog er in größere Verkaufsräume um, stellte mehr Personal ein und erweiterte das Sortiment: Er bot jetzt auch Bekleidung an. Die Geschäfte in Stralsund liefen sehr gut. Aber die überschaubare Größe der kleinen Hafenstadt und die dünne Besiedlung des Umlandes zeigten Tietz, dass ihm Kundschaft und Kaufkraft für weiteres Wachstum fehlten.

Expansion und leere Regale


Tietz wählte das Rheinland für seine Geschäftserweiterung. Er begann 1889 in der boomenden Industriestadt Elberfeld. Diese war damals mit ihrer Leinenproduktion und der Bankwirkerei eine wichtige Einkaufszentrale für die Textilbranche - der Ort, heute ein Stadtbezirk von Wuppertal, wurde deshalb auch das "deutsche Manchester" genannt. Der Andrang in dem neu eröffneten Geschäft war so groß, dass Tietz es nach zwei Tagen vorübergehend schließen musste, denn die Kunden hatten sämtliche Regale leergekauft.

1891 wagte er den unternehmerischen Sprung in die Großstadt Köln: Er übernahm ein 180 Quadratmeter großes Konfektionsgeschäft in der Innenstadt, das schnell zu eng wurde, und begann mit dem Aufbau eines Filialsystems. Er kaufte im Zentrum der Stadt ein Grundstück von 1000 Quadratmetern und errichtete darauf einen spektakulären Neubau, den er als "größtes Sortimentsgeschäft am Platze" anpries, als "Sehenswürdigkeit mit Personen-Fahrstuhl nach allen Etagen zur freien Benutzung". 211 Angestellte bedienten die Kundschaft. "Ein Portier weist am Eingang den Besucher zurecht, der ohne diese Hülfe wohl lange herumirren könnte, ehe er die gewünschte Abteilung fände", schrieb die Lokalpresse. Ende des 19. Jahrhunderts, als immer mehr Menschen in die schnell wachsenden Städte zogen, waren solche Geschäfte, die alles unter einem Dach anboten, ein Symbol der Moderne. "Die Innengestaltung ähnelte bereits einer heutigen Shopping-Mall", schreibt der "Spiegel".

Doch das reichte Tietz noch nicht. Eine neue "Kathedrale des Kaufrauschs" musste her. Nach dem Vorbild der Galleria Vittorio Emanuele in Mailand ließ er 1901 in Köln ein "Passagehaus" im Jugendstil bauen. Mit beeindruckenden Lichthöfen wie beim Mailänder Vorbild. 1906 und 1909 folgten Kaufhäuser an der Düsseldorfer Königsallee und der Kölner Hohen Straße, luxuriöse Prachtbauten mit Säulen, Arkaden und edlen Hölzern. Das Haus an der Hohen Straße wurde zum Stammhaus des 1905 zur Aktiengesellschaft umgewandelten Familienunternehmens. Die Tietz-Aktie war das erste börsennotierte Warenhauspapier in Deutschland.

Als Krönung seines Lebenswerks nahm Tietz 1912 den Umbau des Hauses in Angriff: Er ließ ein neoklassizistisches "Mehrabteilungs- Warenhaus" mit einer Fläche von 9000 Quadratmetern auf vier Etagen bauen. Sieben Monate nach der Eröffnung starb Tietz an Krebs. Er hinterließ seinem ältesten Sohn Alfred Leonhard Tietz einen Konzern mit 5000 Angestellten sowie 25 Häusern und Niederlassungen in ganz Europa. Das Unternehmen machte 84 Millionen Mark Umsatz.

Alfred Leonhard Tietz baute das Unternehmen weiter aus. 1929 beschäftigte es bereits 15 000 Mitarbeiter in 43 Filialen. Aber vier Jahre später nahm die Erfolgsgeschichte ein jähes Ende: SA-Trupps boykottierten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 die Filialen der Familie, die als fortschrittlich, linksliberal und weltoffen galt. Großbanken zwangen Alfred Leonhard Tietz, seine Unternehmen weit unter Wert an Commerzbank, Deutsche Bank und Dresdner Bank zu verkaufen. Die Firma wurde in Kaufhof umbenannt. Die Familie emigrierte nach Palästina und wurde nach dem Krieg mit fünf Millionen DM entschädigt.