Wenn Martin Winterkorn an gute Zeiten erinnert werden will, geht er zu seinem Optiker nach Wolfsburg. Bei Ehme de Riese, der am Hauptsitz des wegen der Abgaskrise angeschlagenen VW-Konzerns drei Läden besitzt, hat der ehemalige Volkswagen-Chef erst in dieser Woche eine neue Brille in Auftrag gegeben. Wie bei vorangegangenen Besuchen sprechen beide gelegentlich auch über Privates, berichtet de Riese. Zuletzt habe der 68-jährige Winterkorn allerdings "sichtlich niedergeschlagen" gewirkt. De Riese kennt den Ex-Manager seit 2008, seit der regelmäßig seine Brillen bei ihm bestellt. Nun sei Winterkorn dafür sogar eigens aus München angereist, wo er seit seinem Rückzug von allen Ämtern bei Volkswagen wohne.

De Riese bezeichnet sich selbst als "VW-Liebhaber". Als vor sechs Monaten die Krise um manipulierte Stickoxidwerte bei Dieselautos über VW und damit auch über die Stadt hereinbrach, begann der Optiker damit, ganzseitige Anzeigen zu schalten. Darin warb er für Solidarität mit dem Autobauer, für den in Wolfsburg direkt und indirekt 72.000 Menschen arbeiten.

Der Schock durch den Abgasskandal sitzt den Menschen in der niedersächsischen Industriestadt in den Gliedern. Wolfsburg mit seinen 125.000 Einwohnern hat in den vergangenen Jahren vom rasanten Aufstieg von VW profitiert. Nun geht die Angst vor Stellenabbau um. Denn wegen der Umweltvergehen drohen in den USA milliardenschwere Strafzahlungen und Schadensersatzforderungen, die VW schwer in Mitleidenschaft ziehen könnten. "Krisen sind Teil des Lebensgefühls in Wolfsburg. Aber diese ist anders", sagt Jochen Schmelzer. Der 48-jährige Vater von zwei Kindern arbeitet in der Golf-Montage. "Wir kennen immer noch nicht das ganze Ausmaß des Schadens. Die Unsicherheit ist das Schlimmste."

"DRAMATISCHE SOZIALE FOLGEN"



Der Betriebsrat befürchtet "dramatische soziale Folgen", sollten die US-Behörden hohe Strafen für Volkswagen verhängen. Das US-Justizministerium hat VW auf bis zu 46 Milliarden Dollar verklagt. Erfahrungsgemäß fallen solche Strafen am Ende niedriger aus. Zusammen mit Sammelklagen und Schadensersatzforderungen dürfte der Skandal jedoch teuer für VW werden. Wie viel er den Konzern genau kosten wird, stellt sich wohl erst in den nächsten Jahren heraus.

"Es kommt einem vor wie eine nicht endende Kette von schlechten Nachrichten", schildert Thomas Ilsemann seine Sicht. Der Inhaber eines Reisebüros in der Wolfsburger Innenstadt glaubt, dass Volkswagen noch längst keinen sicheren Boden unter den Füßen hat. Ilsemann bekommt die Verunsicherung seiner Kundschaft im eigenen Geschäft zu spüren. Vor allem befristete VW-Beschäftigte und Lieferanten hielten sich mit Buchungen zurück.

Die VW-Mitarbeiter sind zunehmend besorgt, dass Volkswagen massiv Personal streichen könnte. Pläne für den Abbau von mehr als 3000 Stellen bis 2017 im Büro-Bereich sind bereits durchgesickert. Mit der Entlassung von Leiharbeitern wurde bereits begonnen. Spekuliert wird, dass auch in der Produktion Arbeitsplätze wegfallen könnten. Der Betriebsrat zeigt sich kampfbereit: "Gegen Auslagerungen und Umstrukturierungen zu Lasten der Belegschaft werden wir uns zu wehren wissen", sagte Wolfsburgs IG-Metall-Chef Hartwig Erb. Mit 90.000 Mitgliedern ist die Geschäftsstelle der IG Metall die größte der Gewerkschaft in Deutschland.

SONDERSCHICHTEN



Es gibt allerdings auch Anzeichen, dass es nicht ganz so schlimm für VW werden könnte, wie viele befürchten. Im Januar und Februar stiegen die Auslieferungen des Konzerns wieder leicht, nachdem sie 2015 erstmals seit Jahren gesunken waren. Dies gelang vor allem, weil VW mit Rabatten nachhalf. Das Management vereinbarte mit dem Betriebsrat für das erste Halbjahr 22 Sonderschichten für die Produktion der Modelle Tiguan, Touran und Golf, um die hohe Nachfrage bedienen zu können.

Auch Optiker de Riese gibt sich zuversichtlich. Er will demnächst einen vierten Laden in Wolfsburg eröffnen und damit auch ein Zeichen gegen die Verunsicherung setzen. "Ich füge eine neue Marke hinzu, etwa so wie es VW in guten Zeiten getan hat", sagt der Unternehmer. "Es ist wichtig, wieder auf die Beine zu kommen, besonders in schwierigen Zeiten wie jetzt."

Reuters