Ende März gab der Frühling ein erstes Stelldichein. Vielerorts kletterten die Temperaturen über die 20-Grad-Marke. Zu Ostern sollte es mit dem T-Shirt-Wetter schon wieder vorbei sein. Meteorologen sagen atlantische Tiefs mit einem Regen-Sonne-Mix voraus. Während passende Kleidung und ein Regenschirm die richtige Antwort auf solche für den April typische Verhältnisse sind, bieten Zertifikate das Instrumentarium für jedes Börsenwetter. Egal ob die Kurse steigen, fallen oder auf der Stelle treten: Mit strukturierten Wertpapieren lässt sich in jeder Phase eine Rendite erwirtschaften. Dennoch bieten die auch als Derivate bezeichneten Vehikel keine Gewinngarantien - ohne die Bereitschaft, bestimmte Risiken in Kauf zu nehmen, gibt es auch in diesem Segment kaum etwas zu holen.
Ausgerechnet im Jahr ihres 30-jährigen Bestehens erlebte die deutsche Zertifikateindustrie einen unerwarteten Höhenflug. Der durch die Corona-Pandemie ausgelöste Aktienboom schob die Derivate-Umsätze kräftig an. "Wir verzeichnen einen starken Zulauf neuer Anleger, die sich für die Börse und unsere Produkte interessieren", so Sebastian Bleser, Zertifikateexperte bei Hypovereinsbank onemarkets. Darunter befänden sich viele jungen Menschen. "Es scheint eine nachhaltige Veränderung der Wertpapierkultur in Deutschland zu geben", stellt Bleser fest.
Volatilität als zentraler Baustein
Heiko Geiger von der Bank Vontobel bestätigt diesen Eindruck. "Investieren gilt für viele als das neue Sparen", erklärt der Derivatespezialist. Gleichzeitig hätten erfahrene Anleger die Corona-Korrektur als Einstiegschance genutzt. Von der Société Générale kommt ein weiteres Argument für das gestiegene Interesse. "Aufgrund der erhöhten Volatilität funktionieren Zertifikate einfach wieder besser", sagt Anouch Wilhelms, Zertifikateexperte bei der französischen Bank.
In der Tat spielt die Intensität der Kursausschläge für die Konditionen der strukturierten Produkte eine zentrale Rolle. Grund: Hinter jedem Zertifikat verbirgt sich eine Option, deren Preis wiederum stark von der erwarteten Volatilität abhängt. Nimmt die Börsenhektik zu - wie in den vergangenen Monaten mehrmals zu beobachten -, locken teilgeschützte Produkte mit größeren Risikopuffern und/oder höheren Renditechancen.
Besonders deutlich kommt diese Wechselwirkung bei Discountzertifikaten zum Tragen. Der Halter eines solchen Derivats agiert de facto als Verkäufer von impliziter Volatilität. Mit dem Ertrag aus dieser im Fachjargon als Schreiberstrategie bezeichneten Transaktion wird das Auszahlungsprofil der beliebten Rabattpapiere finanziert. "Sobald es mit den Kursen nach unten geht und die Volatilität steigt, greifen viele Kunden beim Discounter zu", berichtet Anouch Wilhelms.
Dagegen schränken die nach wie vor niedrigen Zinsen den Gestaltungsspielraum der Emittenten ein. Zertifikate sind Inhaberschuldverschreibungen, die Höhe ihres Coupons wirkt sich im Teilschutzbereich prinzipiell positiv auf die Konditionen aus. "Das Problem des fehlenden risikolosen Zinses wird uns aktuell wohl erhalten bleiben", erwartet SocGen-Experte Wilhelms. Bei Partizipationsprodukten spielt dieser Faktor eine untergeordnete Rolle. In diesem Segment hat die Zertifikateindustrie in den Krisenmonaten eine alte Tugend unter Beweis gestellt: Die Banken machten mit Indizes und Aktienbaskets die Trends investierbar, die mit Corona aufkamen oder durch die Pandemie verstärkt wurden. So lancierte Vontobel bereits im April 2020 ein "Home Office"-Zertifikat.
Am Puls der Börsentrends
"Sehr gut angekommen ist auch der EACH-Basket", sagt Heiko Geiger. In diesem Korb finden sich Unternehmen aus der Unterhaltungs- und Reisebranche. Während die Profiteure der Heimarbeit zuletzt etwas ins Hintertreffen geraten sind, schob die Hoffnung auf eine allmähliche Rückkehr zur Normalität die Kurse von Hotelbetreibern, Fluglinien und Kreuzfahrtunternehmen an. Fünf Monate nach der Emission notiert der Vontobel-Tracker um gut die Hälfte über dem Ausgabepreis.
Ein weiterer thematischer Schwerpunkt ist Nachhaltigkeit. "In diesem Bereich sehen wir hohe Mittelzuflüsse", sagt HVB-Mann Bleser. Unter anderem spielen die Münchner die Ökokarte mit Wasserstoff. Seit der Auflage im September legte ein Open-End-Zertifikat auf den Global Hydrogen Index II um rund drei Viertel zu.
Mit den Kryptowährungen ist das derzeit wohl heißeste Börsenthema im Derivategeschäft präsent. Ein Tracker-Zertifikat der Bank Vontobel auf den Bitcoin-Dollar-Kurs ist seit Monaten ausverkauft. Mit Minifutures bieten die Eidgenossen nach wie vor die gehebelte Positionierung im Digitalgeld. Eine direkte Partizipation am Bitcoin ermöglicht ein Tracker des Kryptobrokers ETC.
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So aussichtsreich EACH, Wasserstoff und Bitcoin weiterhin sind: Bei den in der Tabelle aufgeführten Tracker-Zertifikaten handelt es sich um spekulative Anlagen. Eine Korrektur der mitunter heiß gelaufenen Basiswerte würde voll auf diese Derivate durchschlagen. Anders verhält es sich bei den Produkten mit Teilschutz. Wir haben aus diesem Segment sechs weitere Zertifikate ausgewählt. Ein interessanter Basiswert für die Discountstrategie ist die Lufthansa. Sie zählt zu den besonders volatilen MDAX-Aktien. Mit 10,50 Euro liegt der Höchstbetrag des in der Tabelle aufgeführten Rabattpapiers um vier Prozent unter der aktuellen Notierung. Solange die Lufthansa-Aktie am Ende der Laufzeit auf oder über dem Cap notiert, wirft das Derivat eine prozentual zweistellige Rendite ab. Aktuell steigen Anleger mit einem Rabatt von 18 Prozent auf den Kurs der Fluglinie ein. In diesem Umfang ist das Zertifikat vor Verlusten gefeit. Wichtig: Sollte die Lufthansa den zuletzt stockenden Erholungskurs fortsetzen, hätten Halter des Derivats nichts von über den Cap hinausgehenden Gewinnen. Aussichtsreiche Seitwärtsstrategien sind auch mit dem Corona-Profiteur Delivery Hero und der zuletzt haussierenden Volkswagen-Vorzugsaktie möglich: Das Duo zählt zu den DAX-Aktien mit der höchsten Volatilität.
Teilschutz und Partizipation
Beim Bonuszertifikat beeinflusst neben der Volatilität die Dividende die Konditionen. Die Emittenten verwenden die Ausschüttungen zur Finanzierung dieser Struktur. Dabei gilt: Je spendabler ein Unternehmen, desto interessanter fällt das Chance-Risiko-Profil aus.
An der Spitze der Dividendenhits für 2021 im DAX steht Eon. Mit einem Bonuszertifikat der Société Générale können Anleger mit Risikopuffer darauf setzen, dass die jüngste Kurswende beim Versorger von Dauer ist. Solange Eon nicht auf oder unter die Barriere fällt, wird das Derivat mindestens zu 11,20 Euro zurückbezahlt. An höheren Kursen würde das Produkt zum Laufzeitende vollumfänglich partizipieren. Dagegen erlischt der Teilschutz, sobald die Barriere gerissen wird. Mit knapp drei Prozent fällt der Aufschlag des Eon-Produkts gegenüber dem Aktienkurs akzeptabel aus. Diese Kennziffer ist insofern relevant, als sie das Verlustrisiko im Falle des Barrierebruchs erhöht. Rund zwei Prozent mehr als der Basiswert kostet ein Bonuszertifikat der DZ Bank auf die Münchener Rück. Die niedrigere Prämie hängt mit der längeren Restlaufzeit zusammen. Beim Rückversicherer muss das Polster von 23,3 Prozent bis Juni 2022 halten, damit das Derivat den Bonus von 12,8 Prozent einbringt.
Weniger die Ausschüttungen als vielmehr der jüngste Kursverlauf sprechen dafür, mit Teilschutz auf Adidas zu setzen. Der Sportartikelhersteller scheiterte am Ausbruch über die Marke von 300 Euro. Boykottaktionen in China gegen mehrere Markenunternehmen belasteten den DAX-Wert zudem. Für das Bonuszertifikat ist entscheidend, dass Adidas bis zum 17. Juni 2022 nicht auf 200 Euro oder tiefer fällt. Wenn die Rechnung aufgeht, wirft das Derivat mindestens den Bonusertrag von 9,5 Prozent ab. Auch hier wäre mehr möglich - aber die Wolken über Adidas müssten sich verziehen.
Auf einen Blick
Zertifikate
Land der Trader: Der Börsenboom hat im vergangenen Jahr das Zertifikategeschäft kräftig angeschoben. Der Großteil der Börsenumsätze entfällt zwar auf Hebelpapiere, doch nahm auch das Interesse an den Anlageprodukten in den Corona-Monaten zu.